Artikel 5
versuchten, sich ganz auszustrecken.
Im letzten Jahr hatten seine Hände noch nicht so ausgesehen, oder doch? Nein, daran hätte ich mich erinnert. Damals waren sie zwar schwielig gewesen, doch sie hatten sich weich angefühlt, wenn er mein Gesicht berührt hatte, sanft, wenn er mir durch das Haar gefahren war. Nun waren sie rau. Kämpferhände.
Und wie aus dem Nichts flogen all die wirren Emotionen, die ich im Zuge dieser Geschichte gegenüber den beiden Soldaten entwickelt hatte – das Mitleid, die Scham und der Zorn –, in die Luft wie Bingokugeln, wirbelten chaotisch durcheinander, nur um ganz plötzlich ihren rechtmäßigen Plätzen zugewiesen zu werden.
Tucker, der Karrieresoldat. Chase, der gebrochene Rebell.
Einmal, kurz nachdem Roy uns verlassen hatte, stritten meine Mutter und ich uns fürchterlich; es war der schlimmste Streit, den wir je gehabt hatten. Und es ging wieder um das Übliche: Dass ich ihn zum Gehen getrieben hatte, nachdem er sie geschlagen hatte, und dass ich mich um meine eigenen Angelegenheiten hätte kümmern sollen.
Ich hatte nicht gewusst, was ich tun sollte. Ich hasste sie dafür, dass sie solche Dinge zu mir sagte, dass sie mir die Schuld dafür gab, dass Roy gegangen war, obwohl es natürlich stimmte. Ich hatte ihn vertrieben. Aber ich hasste den Umstand, dass sie nicht begriff, wie schrecklich er war und dass ich sie – uns – davor bewahren musste, noch schlimmer in die Bredouille zu geraten. Aber als ich dann ihre roten, verquollenen Augen gesehen hatte, verglühte all der Zorn, und etwas Neues regte sich in mir. Sie tat mir plötzlich so furchtbar leid. Also nahm ich sie in meine Arme und drückte sie, so fest ich nur konnte, und ich versprach ihr, alles würde wieder gut werden. Sie brach völlig zusammen, aber ich sollte recht behalten. Es wurde wieder gut.
Nun empfand ich das überwältigende Verlangen, das Gleiche für Chase zu tun. Ihn so fest zu umarmen, dass seine Rippen schmerzen würden. Ihm zu sagen, es würde alles gut werden. Aber das tat ich nicht. Vielleicht, weil ich ihm immer noch nicht traute. Vielleicht, weil ich mir nicht traute. Die Wahrheit war, dass ich, würde ich ihn nun halten und würde er so in seine Einzelteile zerbrechen, nicht gewusst hätte, wie ich ihn wieder zusammensetzen sollte. Ich hatte keine Ahnung, ob für irgendeinen von uns, meine Mutter eingeschlossen, alles wieder gut werden würde.
»Mit der Zwickmühle hattest du recht«, sagte ich sanft.
Er sprang so abrupt auf, dass sein Stuhl kippte und hinter ihm auf den Boden krachte.
»Nein, warte.« Ich wollte nicht, dass er ging, wusste aber auch nicht, was ich sagen könnte.
Und da fiel die Tür wieder ins Schloss. Seine Augen blickten dumpf, seine Lippen entspannten sich, und der Kontakt, der gerade zwischen uns zu entstehen begann, war abgebrochen.
Ohne ein weiteres Wort zog er seinen Mantel vom Stuhl und verschwand zur Tür hinaus.
»Chase«, rief ich und war dabei doch beinahe stimmlos.
Ich setzte mich an den Küchentisch und schaltete das statische Brummen des Radios aus. Geistesabwesend folgte ich den dünnen, erhabenen Striemen auf meinen Handrücken und dachte dabei an seine Hände, überlegte, wie tief die Wunden unter einigen seiner Narben sein mochten.
Vermisst du sie?
Er zögerte, und sofort bereute ich, gefragt zu haben.
»Ja.«
»Das war wirklich schlimm, oder? Der Unfall, meine ich. Ich … es tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.« Ich nagte an meinen Fingernägeln.
»Es ist schon gut, es ist nur …« Er kratzte sich am Kopf. »Ich habe bisher eigentlich nie darüber gesprochen.«
Ich wusste noch, wie die Polizei an die Tür geklopft hatte. Wie sie meiner Mutter gesagt hatten, was passiert war. Sie brauchten eine vertraute Person, die sich um Chase kümmerte, bis sein Onkel aus Chicago eintraf. Ich erinnerte mich an die Tränen, die über sein unschuldiges Gesicht rannen.
Mit gerade vierzehn hatte Chase alles verloren.
»Es hat mir so leidgetan für dich«, erklärte ich ihm und dachte daran, wie seine Mutter mich ihr dichtes, schwarzes Haar zu einem Zopf hatte flechten lassen, wie das Haar ohne Band gehalten hatte. Und an seinen Vater, der mir so oft den Kopf getätschelt und mich immer »Kleine« genannt hatte.
»Meine Schwester war ein Albtraum«, sagte Chase und lachte leise. »Es wurde ein bisschen besser, als sie zum College gegangen ist. Sie hatte gerade Winterferien, als der Unfall passiert ist, wusstest du das? Sie wollten
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