Arto Ratamo 7: Der Finne
hatte er anhand einer Reliefkarte für Sehbehinderte auswendig gelernt, und seinen Fluchtweg war er über ein Dutzend Mal abgelaufen.
Sekunden vergingen, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, dann öffnete sich die Aufzugstür. Forsman lief, so schnell er konnte, mit großen Schritten den Gang des Terminals für den Regionalverkehr entlang, mit der Spitze seines weißen Stockes den Markierungen für Sehbehinderte folgend. Die bedrohlichen Absätze waren nicht zu hören. Er musste es einfach schaffen … dreiundvierzig, vierundvierzig … Bis zum nächsten Fahrstuhl waren es einhundertzwölf lange Schritte. Hoffentlich erinnerte er sich richtig?
Als Forsman bei einhundertzwölf angekommen war, bog er nach links ab und stieß mit dem Stock gegen Glas. Er ging einige Meter an der Glaswand entlang bis zur nächsten Ecke, wandte sich nach links, erreichte den Aufzug und drückte auf den Knopf. Im selben Augenblick hörte er die Schritte wieder, vermutlich hatte sie der Lärm übertönt, jetzt waren sie schon ganz deutlich zu vernehmen.
Forsman betrat den Aufzug. Der oberste Metallknopf würde ihn zu den Bussteigen für den Fernverkehr befördern. Doch er drückte den nächsten Knopf, der ihn direkt zum Metrobahnsteig brachte. Es fehlte nicht viel, und er wäre vor Erleichterung auf die Knie gefallen, als die Tür zuglitt.
Kurz danach rauschte sie wieder auf, und Forsman hörte, wie eine U-Bahn zischte und die Räder auf den Gleisen quietschten. Endlich hatte er einmal Glück, gerade fuhr ein Zug ein. Vom Aufzug waren es nur sechs Schritte bis zur Bahnsteigkante, dann könnte er in den ersten Wagen einsteigen …Drei, vier … Sein Stock traf das Bein einer Frau mit heller, klarer Stimme … Fünf, sechs … Ein dumpfes Geräusch erklang, als er den Kunststoffbelag in einem U-Bahnwagen betrat.
An der Haltestelle »Hauptbahnhof« atmete Forsman wieder etwas ruhiger. Wie lange würde er sich in seinem Fluchtquartier versteckt halten müssen? Es war Montag, in vierundzwanzig Stunden würde eine Kettenreaktion ausgelöst werden, wenn er seine Anwältin nicht anrief. Die Juristin hatte strenge Anweisungen, einen von ihm geschriebenen Brief sofort abzuschicken, falls auch nur einer seiner Kontrollanrufe an jedem Dienstag und Freitag ausbliebe. Die Anwältin wusste nicht, was der Brief enthielt, und wollte es vermutlich auch nicht wissen. Ihr genügte es, dafür, dass sie sich die Mühe machte und zweimal in der Woche ein paar Worte mit einem senilen Alten wechselte, ein monatliches Honorar von eintausend Euro zu kassieren.
Der Zug hielt an der Station Kaisaniemi. Forsman lief rasch einhundertvierundzwanzig große Schritte gegen die Fahrtrichtung und wandte sich dann nach rechts. Noch einmal fünf Schritte, und er bog nach links ab. Auf der Rolltreppe duftete es nach frischem Kaffee. Forsman hastete gebeugt durch das Stimmengewirr und den Essensgeruch der oberen Ebene des U-Bahnhofs, die Treppe hinauf zur Kaisaniemenkatu und schließlich, so schnell er konnte, zur Ecke Snellmaninkatu und Vironkatu. Wenig später knallte er die Tür seines Verstecks zu, sank zu Boden und setzte sich auf die blanken Dielen der Einzimmerwohnung. Es schien so, als hätte man ihn in die Vergangenheit gezerrt, in den Sommer 1944, in dem er als junger Mann den Auftrag erhalten hatte, ein Geheimnis zu bewahren, das die meisten Menschen um den Verstand gebracht hätte.
Forsman erhob sich und kontrollierte, ob die Verdunklungsrollos heruntergezogen waren, dann vergewisserte er sich rasch, dass alles so war, wie es sein musste: Sessel, Tisch und Matratze befanden sich im Wohnzimmer, Geschirr und Trockenproviant in der Küche. Auch der muffige Geruch und der Staub, der in der Luft schwebte, waren vorhanden. Nun musste er sich nur noch beruhigen. Er beschloss, sich nicht zu Tode zu grämen, sondern auf seinen Plan zu vertrauen. Jahrzehntelang hatte er Zeit gehabt, zu überlegen, wie er dafür sorgen könnte, dass dieses wichtigste Dokument der finnischen Geschichte in sichere Hände übergeben wurde, wenn man ihn aufspürte. Und er hatte eine Lösung gefunden. Am nächsten Tag würde eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt werden, die seinen Sohn Eerik unweigerlich auf die Spur der Wahrheit führen musste.
Voller Begeisterung müsste er jetzt sein und nicht voller Angst. Auf diesen Augenblick hatte er schließlich seit jenem Tag im Sommer 1944 gewartet, an dem er seinen Kameraden im entferntesten Winkel Lapplands umgebracht und die Leiche in der
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