Arto Ratamo 7: Der Finne
Vukovar in Kroatien organisiert und ihn mit sanfter Gewalt dazu gebracht, sie auch anzutreten.
Sutela versuchte die trübsinnigen Gedanken zu verdrängen und schaute einem Eichhörnchen in einem merkwürdigen orangenen Farbton zu, das schließlich im dichten Blattwerk einer Eiche verschwand. Hinter einer Wolke tauchte die Sonne auf und blendete ihn. Er verbrachte schon den zweiten Sommerurlaub allein. Sofern man bei einem Workaholic wie ihm überhaupt von Urlaub sprechen konnte. Nach Marissas Tod hatte er sich noch mehr in seiner Arbeit vergraben. Die Professur am Institut für Geschichte des University College war immer noch die Erfüllung seiner Träume, aber zugleich auch ein beängstigend effektives Mittel, um vor dem Leben und seinen unangenehmen Wahrheiten zu fliehen.
Er trat vom Fußweg auf die Schwelle seiner Wohnung ineinem kleinen zweistöckigen Haus und holte gerade den Schlüssel aus der Tasche, als plötzlich die Tür aufflog und gegen sein Knie krachte. Das tat weh, und zu allem Übel fiel ihm auch noch die Brille herunter.
»Die Wäsche ist fertig, und einkaufen war ich auch, aber zum Staubsaugen bin ich nicht mehr gekommen. Ich muss um zwei beim Aerobic-Kurs sein.« Das Au-pair-Mädchen des finnischen Ehepaares von nebenan schien es eilig zu haben. Viivi machte bei Sutela zweimal in der Woche sauber.
»Hat jemand angerufen?«, fragte Sutela mit zusammengebissenen Zähnen und massierte sein Knie.
Viivi schüttelte den Kopf. »Nein, aber Post ist ein ganzer Stapel gekommen. Versuch dich doch mal ein bisschen zu amüsieren, schließlich hast du doch Urlaub. Geh einfach mal zu dem Festival auf dem Trafalgar Square, da gibt’s Musik, Theater, Tanz … alles Mögliche. Und kauf dir auch gleich etwas anzuziehen, deine Socken zerfallen in ihre Bestandteile, schon wenn man sie nur berührt.«
Sutela murmelte etwas Unverständliches und drückte Viivi einen Zehnpfundschein in die Hand.
»Im Herd steht schottischer Lachs mit einer Soße aus Apfelsinen und weißer Schokolade und eine große Form mit Sahnekartoffeln. Pass auf, dass du nicht zunimmst«, sagte Viivi mit ihrer hellen, klaren Stimme, tippte dabei auf Sutelas flachen Bauch und winkte dann zum Abschied.
Sutela schaute eine ganze Weile dem etwa zwanzigjährigen Energiebündel mit dem auf und ab schwingenden Pferdeschwanz hinterher. Anscheinend hatten die Nachbarn Viivi von seinem enormen Appetit und seinem effizienten Stoffwechsel erzählt. Er würde nicht ein Gramm zunehmen, selbst wenn er jeden Tag ein ganzes Pferd verspeiste.
Er stieß sich im Flur die Schuhe von den Füßen, sah sich um und überlegte, ob ein Umzug helfen würde. Überall erblickte er Dinge, die an Marissa erinnerten: das rot-schwarzeSofakissen, Urlaubsfotos, die psychedelische Lavalampe … Vor dem Flurspiegel blieb er stehen und betrachtete sich, einen siebenunddreißigjährigen todernsten und in Selbstmitleid versunkenen Witwer in seinen Sommerferien, deren Höhepunkt in gebackenem Lachs mit Sahnekartoffeln und einem Stapel staubiger Geschichtsbücher bestand.
Desinteressiert schaute er die Post durch, die auf dem Flurtisch lag. Ein Werbebrief, in dem behauptet wurde, dass er möglicherweise schon einhunderttausend Pfund gewonnen hatte, die Stromrechnung, ein Versandhauskatalog. Als er den Absender auf einem dicken Brief las, runzelte Sutela die Stirn: »Anwaltskanzlei Qvist & Weselius«.
Eine finnische Anwaltskanzlei, was wollten die von ihm? War mit seinem Vater irgendetwas passiert? Das letzte Mal hatten sie bei Marissas Begräbnis miteinander gesprochen, und zu dem war der Alte gekommen, ohne eingeladen gewesen zu sein. Sutela riss das Kuvert auf und las das Begleitschreiben: »… und übersenden Ihnen deshalb den beiliegenden Brief. Gemäß den Anweisungen unseres Mandanten haben wir für Sie auch ein russisches Visum beschafft.«
Was hatte denn das zu bedeuten? Warum sollte er wohl nach Russland reisen? Noch verblüffter war Sutela, als er im Umschlag der Kanzlei einen kleinen, leicht vergilbten Brief fand. Er riss ihn auf und wurde sofort nervös, als er die Handschrift seines Vaters erkannte.
Eerik,
ich bitte Dich, diesen Brief zu lesen, auch wenn er von mir geschrieben wurde.
Wenn Du imstande bist, meinen Anweisungen zu folgen, und nicht zurückweichst, sobald Schwierigkeiten auftauchen, garantiere ich Dir, dass Du Informationen in die Hände bekommst, die unsere Geschichte ändern werden.Für das Geheimhalten dieser Informationen haben viele mit
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