Ascalon – Das magische Pferd, Band 1: Ascalon – Das magische Pferd. Die Wächter des Schicksals (German Edition)
weder Furcht noch Panik. Er schien ganz genau zu wissen, wohin er wollte, und ließ sich weder durch Schenkeldruck noch durch Zurufe lenken. Sein dickköpfiges Verhalten machte Muriel wütend, aber sie wagte es nicht, in der erhabenen Stille laut zu schimpfen.
Ich wache bestimmt bald auf, dachte sie bei sich. Die Möglichkeit, dass alles nur ein Traum war, hatte immer noch etwas Tröstliches.
Und wenn es doch kein Traum ist? Hastig verscheuchte sie den Gedanken. Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung …
… und sah die Lichtung.
Nicht irgendeine Lichtung.
Muriel schnappte nach Luft. Vor ihr lag die Lichtung aus ihren Träumen. Die Furcht vor dem Ungewissen schnürte Muriel die Kehle zu. Doch zum Nachdenken blieb ihr keine Zeit, denn schon im nächsten Augenblick trat Ascalon aus dem Wald und auf die Lichtung hinaus. Wie ein Geisterpferd schritt er durch den wallenden Nebel.
Muriel kniff die Augen ganz fest zusammen. Sie musste nicht hinsehen. Sie wusste, was sie erwartete. Aber die Neugier war stärker als die Angst. Blinzelnd schaute sie zwischen den halb geöffneten Lidern hindurch – und sah die Hütte.
Wie schon in den Visionen stand sie mitten auf der Wiese. Hinter dem einzigen Fenster war Licht zu sehen. Aus dem windschiefen Schornstein stieg eine helle Rauchsäule auf. Und wie schon in den Visionen ging Ascalon auch jetzt direkt darauf zu.
Muriel war vor Angst wie gelähmt. Mehr denn je war sie davon überzeugt zu träumen. Aber mehr denn je regten sich in ihr auch Zweifel. Wenn es ein Traum ist, überlegte sie, dann wäre ich bestimmt längst aufgewacht. Ich wache doch immer auf, wenn es im Traum brenzlig oder gefährlich wird. Warum jetzt nicht?
Weil es kein Traum ist, meldete sich die leise Stimme in ihr wieder zu Wort. Aber davon wollte Muriel nichts wissen, weil sie sich dann nur noch mehr gefürchtet hätte.
Ascalon schnaubte leise, ganz so als wolle er sie beruhigen. Dann blieb er stehen. Vor der Tür der Hütte.
Muriel saß ganz still. Sie wusste, dass sie absitzen und zur Hütte gehen sollte, aber sie tat es nicht. Sie wollte nicht hier sein – sie wollte nur eines: nach Hause.
Langsam und lautlos schwang die Tür der Hütte auf. Muriel hätte überrascht sein müssen, aber sie war es nicht. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde. Genauso wie sie wusste, dass Ascalon gleich schnauben und ungeduldig mit dem Huf scharren würde.
Geh schon, schien er zu sagen. Aber Muriel wagte es nicht abzusitzen. Sie saß nur da, starrte auf die Tür und wartete auf den Augenblick, da sich im Innern der Hütte etwas bewegte – den Augenblick, in dem sie sonst immer erwacht war.
Die Schicksalsgöttin
Diesmal erwachte Muriel nicht.
Die Hände in Ascalons Mähne gekrallt, blickte sie wie gebannt auf die Tür, hinter der sich im schattigen Dunkel die Umrisse einer schlanken, hochgewachsenen Gestalt im langen Gewand abzeichneten. Muriel biss sich auf die Unterlippe und hielt den Atem an. Sie wusste, wer sie in der Hütte erwartete, obwohl sie diesmal keinen Umhang mit Kapuze trug. Es war die Frau, die sie schon im Wald zu sehen geglaubt hatte – die Frau aus ihren Visionen.
»Ich grüße dich, Tochter der Sterblichen.« Die Frau trat ins Mondlicht. Sie trug ein dunkelblaues, mit silbernen Mustern besticktes Kleid, das um die Taille gegürtet war. Die langen goldblonden Haare hatte sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, von der einzelne Locken bis auf die Schulter hinabhingen. Ihre Oberarme zierten goldene Reifen und um den Hals trug sie eine Kette aus goldenem Geschmeide. Ihr fein geschnittenes Gesicht wirkte jugendlich, aber sie hatte auch etwas Ehrwürdiges und Unnahbares an sich, das nur schwer zu beschreiben war.
»Wer sind Sie?« Muriels Stimme schnarrte wie eine rostige Klingel. Hastig räusperte sie sich und stellte die Frage noch einmal.
»Gute Frage. Wer bin ich?« Die Frau lächelte versonnen. »Darauf gäbe es viele Antworten. Für die Germanen war ich Syn, die Göttin der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Die Römer nannten mich Fortuna. Ihnen war ich die Glücks- und Schicksalsgöttin. Den Griechen war ich als Tyche bekannt. Sie priesen mich als Göttin des Zufalls und des Schicksals.« Sie verstummte, den Blick sinnend auf den Nebel gerichtet, als könne sie in den wogenden Schwaden die Bilder längst vergangener Zeiten sehen. Dann schaute sie Muriel an und lächelte. »Aber das ist lange her«, sagte sie ohne Bitternis. »Die Mythen der
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