Ascalon – Das magische Pferd, Band 1: Ascalon – Das magische Pferd. Die Wächter des Schicksals (German Edition)
kristallenen Karaffe in einen gläsernen Kelch, reichte ihn Muriel und setzte sich ihr gegenüber. Das Licht der Flammen warf tanzende Schatten auf ihr Gesicht und gaben ihr ein fast mystisches Aussehen. Für einen Augenblick hatte Muriel das Gefühl, das wahre Alter der geheimnisvollen Frau erkennen zu können, aber der Moment verstrich, noch ehe sie ihn greifen konnte, und als sie ein zweites Mal hinsah, wirkte die Göttin wieder so jung und anmutig wie zuvor.
»Ascalon ist fast zweihundert Jahre alt«, sagte sie in einem Ton, als sei das ein ganz normales Alter für ein Pferd.
»Zweihundert Jahre?« Muriel rutschte vor Schreck fast der Kelch aus der Hand. »Aber das ist unmöglich. Meine Mutter ist Tierärztin und hat ihn untersucht. Er ist nicht älter als sechs Jahre.«
»In diesem Leben nicht. Das ist richtig.« Die Göttin nickte. »Aber alle seine Leben ergeben zusammen zweihundert Jahre.«
»Alle seine Leben?« Muriel war überzeugt, dass die Frau sie auf den Arm nahm. »Wie meinen Sie das?«
»Ascalon ist kein gewöhnliches Pferd«, erwiderte die Frau. »Ich bin sicher, dass du es bereits geahnt hast. Und wenn nicht, hast du es zumindest gespürt. Sonst hätte er dich nicht hierhergeführt. Früher hätte ich gesagt, er ist mein Diener. Heute wählt man dafür andere Worte.« Ein belustigtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Sagen wir mal so: Er arbeitet für mich.«
»Und was arbeitet er?«, fragte Muriel gedehnt.
»Um dir das zu erklären, muss ich dir zunächst etwas über mich erzählen«, gab die Göttin ausweichend zur Antwort. »Es ist wichtig, dass du alles erfährst, ehe du dich entscheidest.«
»Entscheiden? Aber was …?« Muriel verstummte, weil sie sah, dass die Göttin missbilligend den Kopf schüttelte.
»Gemach, Sterbliche«, sagte sie mit einem Anflug von Strenge in der Stimme. »Es gibt Zeiten für Fragen und Zeiten für Antworten. Zunächst aber ist die Zeit des Zuhörens.«
Muriel nickte beschämt. Sie hatte nicht unhöflich sein wollen. Errötend trank sie einen Schluck Wasser und lauschte gespannt.
»In jenen Zeiten, die ihr heute die Antike nennt«, begann die Göttin, »waren diese Hallen erfüllt von Leben. Hunderte Göttinnen und Götter weilten hier und lenkten die Geschicke der Völker. Mal gütig und weise, mal launisch und kriegerisch. Ganz wie es ihnen gefiel. Es war eine schöne Zeit. Eine Zeit vollkommener Macht, in der die Götter aber auch selbstgefällig wurden. Sie vernachlässigten ihre Aufgaben und suchten Zerstreuung in ausschweifenden Festen. Die Hallen waren erfüllt von Musik, Tanz und überschäumender Lebensfreude. So mancher vergaß darüber gern die Pflichten, die ihm aufgetragen waren, und so geschah es, dass die Menschen sich von uns abwandten. Wir wurden blasser und schwächer und immer mehr von uns zogen sich zurück.« Die Göttin verstummte und für einen Augenblick wirkte sie traurig.
»Aber Sie sind noch hier«, sagte Muriel, die das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen.
»Ja, ich bin geblieben.« Die Göttin nickte versonnen. »Gern wäre ich den anderen gefolgt, aber ich konnte es nicht.« Sie sah Muriel an. »Erinnerst du dich, was ich vorhin sagte? Auch Götter machen bisweilen Fehler. Nun, auch ich habe Fehler gemacht. Ich war selbstgefällig und unaufmerksam. Und ich habe meine Pflichten sträflich vernachlässigt. Als ich es bemerkte, war es bereits zu spät. Zu viele Jahre, zu viele Jahrhunderte waren vergangen. Völker waren untergegangen und existierten nicht mehr. Mythen waren geboren worden und Mysterien verschollen. Zu viel war geschehen, als dass ich all meine Säumnisse noch hätte überblicken können. Zu viele Geheimnisse schlummern bereits im endlosen Strom der Zeit. Machtvolle und manchmal auch gefährliche Geheimnisse, die für immer verborgen bleiben müssen und die durch meinen Müßiggang nun ungeschützt sind. Die Gefahr, dass sie entdeckt werden, ist allgegenwärtig und wird mit jedem Jahr, das verstreicht, größer. So harre ich hier aus. Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert, und warte darauf, dass die Fehler im großen Plan, die durch meine Säumnisse entstanden sind, wieder zutage treten, in der Hoffnung, dass ich ihre Entdeckung durch die Menschen noch rechtzeitig verhindern kann.«
Wieder hatte Muriel das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber sie war viel zu verwirrt, um eine vernünftige Bemerkung zu machen.
»Das … das tut mir sehr leid«, erwiderte sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen,
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