Asche und Phönix
auf was?
Sie hatte ihm ein Bein abgeschossen und er hätte kriechen müssen, nicht humpeln, doch vor ihrem inneren Auge sah sie ihn wieder vor sich, wie er dagelegen und nach dem abgerissenen Unterschenkel getastet, ihn gepackt und näher herangezogen hatte.
Womöglich heilte er gerade. Wartete nur darauf, dass das Bein ihn vollends tragen würde und seine alte Schnelligkeit zurückkehrte.
Ash warf sich herum und rannte los. Wenn ihn Schrotladungen nicht aufhalten konnte, dann auch nicht die Kugeln der Automatik. Vielleicht konnte sie ihn stattdessen abhängen.
Sie lief den Gang hinunter bis zu der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Wahrscheinlich wäre es jetzt möglich gewesen, durch die Nebentür im Zwingeranbau hinaus ins Freie zu rennen, dann zu den Garagen, in der Hoffnung, dort ein Fahrzeug zu finden, in dessen Zündschloss der Schlüssel steckte, oder eben doch zu Fuß durch den Wald, weil es Libatique und Guignol ja eigentlich gar nicht um sie ging, sondern um Royden Cale.
Aber auch um Parker.
Kurz entschlossen sprang sie die Stufen hinauf und blickte über die Schulter zurück zum Foyer. Ein dunkler Umriss war im Korridor erschienen, dürr und verschoben, zur Seite gebeugt, aber mit zwei vollständigen Beinen. Noch während sie hinsah, streckte er das eine Bein mit einem lauten Knacken und Knirschen, richtete sich auf und folgte ihr mit dem furchtbaren Messer in der Hand.
Er war nicht mehr so unmenschlich schnell wie zuvor und humpelte noch immer, aber nun lief er schon wieder, und dann war Ash die Treppe hinauf und verlor ihn aus dem Blick. Trotzdem hörte sie noch seine Schritte, hörte ganz deutlich, wie sie immer sicherer und fester klangen und er an Geschwindigkeit gewann.
Einen Moment lang stand sie da und suchte nach dem besten Fluchtweg, einem Versteck, vielleicht in einem der Räume. Aber wenn er sie dort entdeckte, saß sie in der Falle. Dann konnte sie höchstens noch versuchen, ein Fenster einzuschlagen und zu springen, auf die Gefahr hin, sich die Knochen zu brechen und liegenzubleiben, bis er bei ihr war.
Im Erdgeschoss näherten sich Schritte. Guignol hatte die Treppe fast erreicht.
Ash drehte sich um, nahm all ihren Mut zusammen und rannte die Stufen wieder hinunter.
38.
»Damals, Ende der Sechzigerjahre, gab es viele Sekten und Kulte in Kalifornien«, sagte Libatique und entfernte sich einige Schritte von den Gefangenen. Erstmals sah auch er aus dem Fenster, hinauf zum Mondhaus, das in der Dämmerung nur noch derjenige erahnen konnte, der wusste, dass es sich dort oben verbarg.
»Tu das nicht …«, stöhnte Cale, aber seine Worte waren kaum zu verstehen. Sein Mund war fast zugeschwollen, seine Nase ein Trümmerfeld.
Libatique begann auf und ab zu gehen wie ein Dozent, der sein Lieblingsthema anschneidet. »Die meisten dieser Leute waren Verrückte, die sich im Drogenrausch einbildeten, Kontakt mit Toten und der Hölle selbst aufnehmen zu können. Eine Menge von ihnen hatte zu viele Tage in der Eye-Of-Horus -Buchhandlung auf dem West-Jefferson-Boulevard verbracht, gleich gegenüber der Universität von Los Angeles. Anton LaVey mit seiner Church of Satan , Schauspieler wie Jayne Mansfield und Richard Harris, Musiker … Jim Morrison und Dennis Wilson … Charles Manson, nicht zu vergessen … Ich bin ihnen allen irgendwann dort begegnet, aber die meisten waren viel zu arrogant und dumm, um mir nützlich zu sein. Freaks und Hippies und eine ganze Menge verkappte Faschisten, die sich für Esoteriker hielten … die Process Church of the Final Judgement …« Kopfschüttelnd blieb er stehen, hob den Stock und deutete durch das Fenster den Berg hinauf. »Und dann natürlich der Ordo Templi Hecate und dieser verfluchte Narr, der sich Frater Iblis Nineangel nannte.«
Parker konnte nicht anders, als gleichfalls zum Mondhaus hinaufzusehen. »Hekate, die Mondgöttin«, murmelte er.
»Oh ja!« Libatique wirbelte herum. »Das war sie einmal und noch vieles mehr. Und Nineangel war ihr treuer Diener, der Hohepriester ihres Kults – jedenfalls wenn er nicht gerade auf seinem Surfbrett stand oder LSD aus Mexiko über die Grenze schmuggelte.«
Cale hustete und stöhnte, spie Blut und Speichel über seine Brust und versuchte, die geschwollene Oberlippe mit der Zungenspitze anzuheben. Parker verzog das Gesicht, weil er nicht mehr wusste, ob er Mitleid oder Abscheu empfinden sollte. Und er fürchtete sich vor dem, was Libatique als Nächstes sagen würde.
»Der Orden der
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