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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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taumelte, fast stürzte, sich abermals fing und ihr folgte.
    Sie erreichte das Ende des Flurs und riss die Tür auf, die in den Verbindungsgang zu den Zwingern führte. Der lange Korridor lag im Halbdunkel. Vor den Fenstern hing die Dämmerung wie grauer Filz.
    Ash hörte Guignol hinter sich. Sein Gestank raubte ihr den Atem. Die Schüsse hatten ihn kurz aufgehalten, zeigten sonst aber keine Wirkung.
    Dreißig Meter waren ihr noch nie so lang vorgekommen. Sie hatte diesen Gang heute schon mehrere Male durchquert, aber diesmal schien es ihr, als zöge er sich vor ihr wie ein Gummischlauch, als kämen für jeden Meter, den sie zurücklegte, am anderen Ende zwei weitere hinzu.
    Nur einmal noch schaute sie nach hinten und sah Guignol im Schatten zwischen den Fenstern. Sein Bein drehte sich bei jedem Schritt nach außen und drohte wegzuknicken. Aber da war auch das Schlachtermesser als schimmernder Spalt inmitten seiner Silhouette.
    Der Gummibandeffekt des Korridors ließ nach, das Ende sprang abrupt auf sie zu. Dann stieß sie die Tür zum Anbau auf und schlitterte in den weißen Kachelgang dahinter. Nur wenige Schritte, und sie erreichte die Metalltür der Zwinger.
    Die Hunde kauerten nicht mehr zitternd in den hintersten Winkeln ihrer Käfige, sondern saßen mit gespitzten Ohren da. Hechelnd blickten sie Ash aus ihren schwarzen Augen entgegen. Irgendetwas hatte sich verändert, aber sie verstand nicht, was es war. Die Präsenz, die die Hunde zuvor in solche Panik versetzt hatte, war doch noch immer im Haus.
    Sie hörte ihren Verfolger draußen auf dem Gang. Dann fiel die Tür hinter ihr zu und für einen Moment verstummten Guignols Schritte.
    Weiter, an den Käfigen vorbei zur Tür nach draußen. Am Waldrand konnte sie ihn vielleicht abhängen. Das Unterholz würde sie beide behindern, aber ihn mit seinem steifen Bein vielleicht mehr als sie.
    Die Blicke der Hunde folgten ihr, während sie die Tür erreichte. Ihre Hand lag schon auf der Klinke, als sie stehen blieb und noch einmal in die Zwinger schaute.
    Die Hunde sahen sie erwartungsvoll an, als sollte nun ein Befehl von ihr kommen. Spürten sie, dass ihrem Herrn eine tödliche Gefahr drohte? Überwog ihr Pflichtgefühl die Furcht, die sie nach ihrer ersten Raserei zum Verstummen gebracht hatte? Es stand außer Zweifel, dass die Tiere Libatiques Anwesenheit auf andere Weise wahrnahmen als Ash.
    Draußen kamen Guignols Schritte näher, merklich verlangsamt, als spürte auch er, dass hinter der nächsten Ecke mehr auf ihn wartete als nur ein Mädchen mit einer Waffe, die ihm kaum etwas anhaben konnte.
    Ash löste sich vom Ausgang und lief zurück zum vorderen der drei Zwinger. Die Hunde saßen ganz still, nur ihre Köpfe drehten sich. Ihre Blicke folgten jeder von Ashs Bewegungen. Sie zögerte ein letztes Mal, schloss kurz die Augen und drehte den Eisenknauf am Gitter. Das Schloss schnappte zurück. Sie zog die Tür einen Fingerbreit nach außen und eilte zur nächsten. Noch immer rührte sich keines der Tiere. Alle sechs saßen da und starrten sie an. Mit schweißfeuchter Hand betätigte sie den zweiten Knauf.
    Hinter ihr erschien Guignols Schatten im Eingang.
    Mit zwei raschen Sätzen erreichte sie die dritte Gittertür. Die letzte vor dem Ausgang ins Freie.
    Zischend wie ein Reptil betrat Guignol den Raum.
    Die Hunde begannen zu knurren. Der Blutgestank musste für sie hundertmal intensiver sein als für Ash, aber sie war sicher, dass er nicht der einzige Grund für ihre Aggression war.
    Sie öffnete den dritten Zwinger, nur einen Spaltbreit. Dann zwang sie sich, die Schritte bis zum Ausgang sehr langsam zu gehen, trotz der Kreatur in ihrem Rücken.
    Und auch Guignol bewegte sich wie in Zeitlupe. Falls er Furcht vor den Tieren verspürte, so zeigte sich nichts davon in seiner Fratze. Einzig die Tatsache, dass er sich nicht gleich auf Ash stürzte, verriet, dass ihm die Gefahr bewusst war.
    Sein linkes Hosenbein war über dem Knie zerrissen. Darunter war eine speckige Wulst zu sehen, wo der abgetrennte Unterschenkel wieder mit dem Körper verwachsen war. Das graue Fleisch war noch nicht erstarrt, es sah aus, als wälzten sich die Hautschichten fortwährend umeinander, während darunter Knochen und Muskelfasern heilten.
    Einer der Hunde stieß einen schnappenden Laut aus. Seine Kiefer öffneten sich bis zu den Ohren und entblößten das Gebiss.
    Ash presste sich mit dem Rucksack gegen die Wand. In der rechten Hand hielt sie noch immer die Pistole, mit der linken

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