Asche und Phönix
Jahre bleiben ihm noch?«
»Nachdem sie mit ihm fertig ist? Drei, vier, vielleicht.«
»Genauer kannst du’s nicht sagen?«
Er neigte den Kopf ein wenig und sah sie eindringlich an. »Reden wir über ihn oder über dich?«
»Kannst du wirklich wittern, wie viel Zeit uns noch bleibt?«
Flavien lehnte sich gegen die Wand. Er lächelte noch immer und schwieg.
»Bleibt mir tatsächlich nur ein Tag?«, fragte sie.
Nun sah er sie fast ein wenig mitleidig an. »Das hab ich nicht gesagt.«
»Du hast es –«
»Was? Angedeutet?« Mit einem Ruck stieß er sich ab, schnellte zwei Schritte nach vorn und presste rechts und links von ihr die Hände gegen die Kabinenwand. Seine braunen Augen fixierten sie. Er berührte sie nicht, aber Ash war zwischen seinen Armen gefangen, sein Gesicht befand sich unmittelbar vor ihrem. Die Hand mit dem offenen Salzstreuer hatte sie schon halb aus der Tasche gezogen, aber noch zögerte sie.
»Warum bist du hergekommen?«, fragte er. »Was willst du wirklich? Doch keinen Sex.«
»Nein. Ich hatte gestern Abend schon ganz fantastischen.«
Seine Augen glühten auf wie die eines Raubtiers. »Erzähl mir davon.«
»Filmstarsex. Echten. Das, wovon all die Starfucker in diesem Hotel nur träumen.«
Seine Lippen näherten sich ihren. »Ich bin neidisch.«
Sie zog den Salzstreuer hervor, aber Flavien war schneller. Blitzschnell federte er einen halben Schritt zurück, holte aus und schlug mit ungeheurer Kraft gegen ihre rechte Hand. Das Gefäß entglitt ihren Fingern und krachte gegen die Aufzugtür. Beim Aufprall zerschmetterte das Glas und das Salz ergoss sich über den Boden.
Flavien blickte auf die weiße Schicht auf dem Teppich und zog angewidert die eine Seite der Oberlippe nach oben. Ein leises Grollen stieg aus seiner Kehle auf.
Ashs Arm schmerzte. Mit der Linken presste sie die Hand an ihren Oberkörper.
»Halt dich ja von mir fern!«, schnauzte sie ihn an.
»Der Sex gestern, war der mit deinem hübschen Freund? Der, mit dem du in die Hotelbar gekommen bist? Derselbe, der mit Elodie aufs Zimmer gegangen ist?«
Sie sah ihn wutentbrannt an und presste die Lippen aufeinander.
Erneut kam er auf sie zu. Durch die Gummisohlen seiner Schuhe zeigte das Salz keine Wirkung. Mit einer Hand packte er sie an der Kehle, stieß Ash gegen die Wand und bleckte seine Zähne. Sie waren sehr weiß und ebenmäßig. Hollywoodzähne. »Sag mir die Wahrheit! Hat dein Freund auch Salz dabei?«
Das Klingelsignal. Der Aufzug hatte den sechsten Stock erreicht.
»Leck mich«, krächzte Ash. Sie bekam kaum Luft und schlug nach ihm, aber als ihre geprellte Hand seine Brust traf, war ihr Schmerz ungleich größer als seiner.
Die Schiebetür glitt auf. Der Korridor war verlassen.
»Hat er Salz dabei?«, fragte Flavien noch einmal.
Ash konnte nicht antworten, selbst wenn sie gewollt hätte. Farbpunkte tanzten vor ihren Augen.
Flavien fluchte auf Französisch, schleuderte sie zu Boden und stürmte hinaus auf den Flur.
48.
Libatique mag diesen Ort am Ende der Landzunge.
Er mag das kleine Haus und die Bucht mit dem Bootssteg, mag die Seevögel, die mit geschwellter Brust über die Felsen stolzieren, und er mag das Gefühl von Abgeschiedenheit, obwohl die Küstenstraße nur einen Steinwurf entfernt ist.
Er lauscht den Schreien des blinden Mannes, horcht auf, wenn ein Ton ihn inspiriert, und er kann nicht anders, als eine Melodie zu komponieren, nur etwas Kleines zum Zeitvertreib. Die Muster an den Wänden und auf dem Boden folgen ihm, sein Schweif aus unvollkommener Kunst, der ihn auf Schritt und Tritt begleitet und daran erinnert, dass er vielleicht nie in der Lage sein wird, etwas ganz und gar Eigenes zu erschaffen. Wenn er zeichnet, entsteht sein Gesicht. Wenn er komponiert, klingt die Musik nach seiner Stimme. Und wenn er sich an Skulpturen versucht – besonders an jenen aus Fleisch –, dann werden sie zu Karikaturen seiner selbst.
Wie Guignol.
Wie Royden Cale.
Er beobachtet seinen neuen Diener, während der sich mit dem gefesselten Blinden beschäftigt. Heute Morgen hat Libatique Roydens Gesicht in einem Anflug ungestümer Kreativität verformt, die Nase verlängert, auch das Kinn, bis sein Profil einer offenen Kneifzange glich. Damit war er nicht zufrieden, er hat hier noch etwas weggenommen, da etwas hinzugefügt, die Stirn verkürzt, die Wangenknochen stärker hervorgehoben – und als er ihn am Ende betrachtete, da sah Royden fast aus wie Guignol und damit wie ein Zerrbild
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