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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie sich hätte wehren können. Ihr Schädel schmerzte, ihr Rücken war sicher grün und blau, und sie meinte Flaviens Hand noch immer an ihrem Hals zu spüren. Er hätte sie im Lift töten, zumindest aber so schwer verletzen können, dass sie ausgeschaltet gewesen wäre. Aber er hatte das nicht getan. Warum?
    Vorsichtig näherte sie sich der offenen Tür. Der Geschirrwagen stand auf der anderen Seite des Korridors. Von dort kam kein Laut.
    Am Licht, das aus dem Zimmer auf den Gang fiel, konnte sie sehen, dass sich jemand darin bewegte. Sie hörte ein Flüstern, das beinahe wie Schluchzen klang. Noch drei Schritte, dann konnte sie hineinsehen.
    Auf dem Wagen stand eine Sprühflasche mit chemischem Reiniger. Kein K.-o.-Spray, aber besser als nichts. Um heranzukommen, musste sie erst an der offenen Tür vorbei. Wer immer auch von drinnen hinaus auf den Gang sah, würde sie entdecken.
    Unendlich behutsam machte sie den letzten Schritt bis zum Türrahmen, hielt die Luft an und blickte mit einem Auge um die Ecke.
    Der kleine Flur, der an der Badezimmertür vorbei in den Schlafraum führte, war verlassen. Sie konnte von hier aus das Bett nicht sehen, aber sie hörte Kleiderrascheln und wieder das Flüstern in einer Sprache, die sie nicht verstand. Es klang heiser, nicht nach Parker. Überhaupt nicht wie ein Mensch. Auch nicht nach Flavien.
    Falls Parker dort drinnen war, gab er keinen Laut von sich. Ashs Brustkorb zog sich zusammen. Ihr Magen schmerzte, als hätte sie Nägel geschluckt. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie fürchtete, es müsste auch im Zimmer zu hören sein.
    Die Tür zum Bad stand offen, im Inneren brannte Licht. Flavien hatte mit Sicherheit hineingesehen, bevor er tiefer ins Zimmer gegangen war. Dort also war Parker nicht. Vielleicht lag er leblos auf dem Bett.
    Auf Zehenspitzen huschte sie am Eingang vorbei und ergriff die Sprühflasche. Sie dachte kaum nach über das, was sie tat. Die Sorge um ihn würgte jeden vernünftigen Gedanken ab. Vielleicht war es falsch, womöglich war das Risiko zu groß. Aber sie konnte nicht tatenlos dastehen oder gar umkehren.
    Sie hielt die Sprühflasche in der Hand wie eine Waffe und betrat damit den kleinen Flur. Als sie die Badtür passierte, erschrak sie vor der Bewegung ihres Spiegelbilds.
    Vor ihr öffnete sich der Blick ins Zimmer. Links hinter der Ecke befand sich das Doppelbett. Flavien stand daneben und schaute zu ihr herüber.
    »Sieh dir an, was er getan hat.«
    Das Ding, das vor Flavien auf dem Bett lag, hatte Ähnlichkeit mit einer gigantischen Made, länger als Ashs Arm, ein Wurm aus weißen Segmenten, durch dessen Haut verästelte Adern schimmerten. Kein erkennbarer Kopf und keine Gliedmaßen. Das Wesen krümmte und rollte sich auf zerknüllten Kleidungsstücken hin und her, einem cremefarbenen Pullover und etwas Dunklem, vielleicht einem kurzen Rock. Dabei sonderte es Unmengen eines farblosen Schleims ab. Ein stumpfer Geruch hing in der Luft, der Ash an rohe Kartoffeln erinnerte.
    Während sie das Ding noch anstarrte, öffnete sich am vorderen Ende – oben auf dem zerwühlten Kopfkissen – ein geschlitztes Organ wie ein senkrechter Mund. Heraus drangen Laute, die nichts mit menschlicher Sprache gemein hatten, halb Schmatzen, halb Pfeifen. Flavien schloss für einen Moment die Augen, als müsste er Tränen fortblinzeln, dann sah er wieder Ash an.
    »Warum seid ihr hergekommen?«, fragte er. »Nur um uns das anzutun?«
    »Scheiße«, flüsterte Ash. »Was zum Teufel seid ihr?«
    Flaviens Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse. »Du musst ihr helfen! Komm her!«
    Sie bewegte sich einen halben Schritt zurück, als er die Arme nach ihr ausstreckte. »Wo ist Parker?«, fragte sie.
    »Du sollst herkommen!«
    Kopfschüttelnd versuchte sie, einen Blick hinter das Bett zu werfen. » Das passiert mit euch, wenn ihr mit Salz in Berührung kommt?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen. Dabei bewegte sie sich langsam einen weiteren Schritt nach hinten.
    »Du musst es von ihr herunterwaschen!«, rief Flavien, sein Tonfall eine Mischung aus Verzweiflung und Wut. »Ich kann sie nicht anfassen, sonst passiert mit mir das Gleiche.«
    »Kann sie sprechen?«
    Das Madending wälzte sich auf dem glitschigen Untergrund einmal um sich selbst. Vermutlich schied es den Schleim aus, um das Salz von seinem Körper zu spülen, aber allzu hilfreich schien das nicht zu sein. Das Mundorgan öffnete und schloss sich in pulsierenden Schüben. Aus dem Pfeifen war ein Klicken und

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