Ascheherz
aus verblichenem Schwarz. Ein Seidenkleid, das mit seinem schlichten Schnitt dem aller anderen glich. Summer streifte es über und band sich den ebenfalls schwarzen, breiten Gürtel um, der so eng geschnürt war wie ein Mieder.
»Und das hier ist ebenfalls für dich. Danach hast du mich einmal im Halbschlaf gefragt.«
Summer begann zu strahlen, als ihre Freundin ihr die Gegenstände in die Hand drückte: das Kartenspiel, den silbernen Katzenkopf und die leere Lederhülle ihres Klappmessers.
»Lady Mar hat angeordnet, dass deine Jacke und alles, was du sonst noch bei dir hattest, verbrannt werden soll, aber ich dachte, die Dinge bedeuten dir sicher noch etwas.« Beljén kicherte wie
ein Mädchen, dem ein Streich geglückt war. Und Summer wusste mit einem Mal wieder, warum sie ihre Freundin mehr geliebt hatte als ein Menschenmädchen seine Schwester.
»Danke«, sagte sie aus vollem Herzen und ließ die Sachen in einer der beiden unauffälligen Seitentaschen in den Rockfalten verschwinden. »Und jetzt los!
Beljén sprang vor und packte sie am Arm. »Moment! Vergiss deine Maske nicht!«
Summer stürzte zum Spiegel, neben dem die Maske auf einem Stuhl lag. Sie erschrak vor einer Fremden mit weit aufgerissenen braunen Augen. Es war wie ein Schnappschuss aus der Vergangenheit. Vor ihr stand nicht das gejagte, geschundene Mädchen mit dem Kurzhaarschnitt, sondern die Sommerkönigin aus Morts Stück. Ihr Haar war wie durch Zauberhand in den wenigen Tagen wieder lang geworden. Jemand hatte die rotblonden Wellen sogar zu einer komplizierten Frisur geflochten, damit ihr die Strähnen nicht in die Stirn fielen. Wann war das geschehen? Als sie geschlafen hatte? In dem schwarzen Kleid sah sie stolz aus und würdevoll - und auf eine unterschwellige Art auch gefährlich. Ich bin wieder eine Zorya , dachte sie und lächelte. Lady Tjamad.
»Schläfst du?«, mahnte Beljén. »Die Zeit läuft!«
Von außen hatte die Zitadelle schon wie eine bizarre Skulptur gewirkt, doch innen war sie ein beängstigendes Wunderwerk. Eines, das den Fieberträumen eines Größenwahnsinnigen entsprungen war. Ein solches Gebäude konnte sich nur jemand ausdenken, der davon fantasierte, das ganze Land bis zum letzten Bewohner zu beherrschen und der keine Geheimnisse duldete. Sie verließen
den Inneren Zirkel über verglaste Brückengänge, die die Türme noch unterhalb der Festungsmauer miteinander verbanden.
Die Wände des Fahrstuhls, der sich im zweiten Turm mit einem mechanischen Klacken von Stockwerk zu Stockwerk schob, waren ebenfalls gläsern. Summer blickte durch mehrere ebenso transparente Wände in achteckige Räume, die den Aufzug wie Bienenwaben umgaben. Sie sah Soldaten und Offiziere, die in ihren Unterkünften in Feldbetten lagen, Waffenkammern und Vorratsräume und mit Vorhängen verdeckte Badezimmer. Nur wenige Diener waren bereits wach, und einige Wachleute, die durch die Wände hindurch mit Ferngläsern das Land beobachteten. Auch Summer selbst konnte durch mehrere Mauern den Nachthimmel sehen und weit entfernt die zerklüftete Küste erahnen. Deshalb hatte die Zitadelle keine Fenster: Nur von außen waren die Mauern glatt und weiß, und niemand konnte hineinsehen. Doch innen war es ganz anders. Und wie durchsichtige Adern durchzogen Verbindungsbrücken und Aufzüge die Zitadelle.
Hier kann man kaum etwas verbergen , dachte Summer. Beljén spürte ihre Unruhe und drückte ihre Hand fester.
»Lass mich reden«, ermahnte Beljén sie, als die Türen des Aufzugs sich im elften Stock öffneten. Dann raffte sie ihren Rock und verwandelte sich innerhalb eines einzigen Schrittes.
Die Lady mit der Bronzemaske, die nun schnurstracks auf eine geschlossene Tür zuging, schien von einer dunklen, bedrohlichen Aura umgeben zu sein. Und ihre Stimme war tiefer und so herrisch, dass sogar Summer zusammenzuckte.
»Aufmachen!«
Ohne langsamer zu werden, schritt sie weiter, und wie von Zauberhand öffnete sich die Tür. Summer beeilte sich, ihr zu folgen.
»Ich will Lord Joras sprechen!« Beljén wandte sich an niemand
Bestimmten. Aber die Diener im Raum stürzten allesamt davon. Kaum zwei Minuten später erschien der Lord in einem bodenlangen Mantel, den er sich sicher nur hastig übergeworfen hatte. Man konnte ihm ansehen, dass er geweckt worden war und alles andere als begeistert darüber war. Aber er beherrschte seinen Zorn sofort, als er sah, wen er vor sich hatte. »Lady Beljén!« Er verbeugte sich.
»Ich habe euch einen Verletzten
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