Ascheherz
König Beras erbauen. Heute wird der alte Turm kaum noch genutzt - außer als Aussichtspunkt, aber es ist wegen der Windwirbel zu gefährlich, auf dem Dach zu stehen.«
Summer hörte kaum hin, als Beljén weitersprach, sondern fieberte jedem Stockwerk entgegen, das der unerträglich langsame Aufzug erklomm. Er war mit Holz verkleidet und bei jedem Ruckeln jammerte das Metallgitter, das als Tür diente, erbärmlich quietschend vor sich hin. Ab dem vierzigsten Stockwerk wurde es dunkler. Hier oben gab es nur altes Mauerwerk und keinen Ausblick nach draußen. Mit einem letzten wehleidigen Klackern hielt der Aufzug vor einer Treppe, die leicht schwankte, weil sie nur an Seilen aufgehängt war.
Schon nach wenigen Stufen ließ Summer Beljén hinter sich und rannte die Stufen hinauf. Keuchend erreichte sie einen düsteren Rundgang, der nur über schmale Fensterscharten verfügte, aber sie waren so schmierig, dass auch bei Tag kaum Tageslicht hindurchgedrungen wäre. Eine Metallstiege führte zu einer Dachklappe voller Spinnweben. Und noch weiter oben ist das Rondell, das ich vom Boot aus gesehen habe , dachte Summer, während sie auch noch die Stiege hinter sich brachte. Dort ist er? Plötzlich hämmerte ihr Puls gegen ihre Schläfen und sie glaubte seinen Kuss auf ihren Lippen zu spüren.
»Tjamad, warte!«, rief Beljén. Doch da stieß Summer schon mit zitternden Händen die Klappe auf und trat auf verzogene Dielen. Ein zweiter Rundgang. Das Nächste, was ihr auffiel, war der Geruch nach Branntwein, obwohl nirgendwo eine Flasche stand. Im Halbdunkel beleuchtete eine altmodische Öllampe einen schartigen Tisch. Dort lag, halb verborgen unter einem hingeworfenen
Lappen, ein Schlüsselbund. Zumindest lugten ein Teil eines Messingrings und ein Schlüsselkamm darunter hervor.
»Mylady«, sagte eine tiefe, heisere Stimme. Der Wächter, der vor den Tisch trat, konnte eine Verbeugung lediglich andeuten. Noch nie hatte Summer einen so beleibten Mann gesehen. Der Ledermantel, den er trug, glich einem Feldzelt, in dem vier Soldaten Platz gefunden hätten. In seiner Jugend war er sicher drahtig und stark gewesen, aber davon zeugten nur noch die muskulösen Unterarme, die mit verblassten Tätowierungen übersät waren.
Beljén trat neben sie, ein wenig atemlos, aber ebenso würdevoll und streng wie vorhin. »Name?«, fragte sie knapp und strich sich den Rock glatt.
Der Mann musterte sie aus dunklen, fast schwarzen Augen, bevor er mit dem Kopf eine zweite Verbeugung andeutete. Offenbar rasierte er sich selten. Weiße Bartstoppeln sprossen an dem Kinn, das nahtlos in den Hals überging. Eine Narbe zog sich schräg über seinen ganzen kahlen Schädel.
»Tellus Kansen. Immer zu Euren werten Diensten, Mylady«, brummte er. Beljén schien den leicht sarkastischen Unterton nicht zu bemerken. Aber Summer horchte sofort auf.
»Gut, Tellus also. Führe Lady Tjamad zu dem Gefangenen«, befahl Beljén.
Irrte sich Summer oder zuckten die dichten weißen Brauen spöttisch ein Stück nach oben? Die stechenden, sehr wachen Augen wirkten in dem aufgedunsenen Gesicht seltsam fehl am Platz. So als gehörten sie einem flinkeren, jüngeren Mann.
Aber er fragte so langsam, als sei er schwer von Begriff: »In die Kammern der Winde?«
»Gibt es noch andere?«, kam es mit schneidender Stimme von Beljén.
Der Wächter drehte sich zur Seite und stützte sich auf dem Tisch ab. Dann wies er mit großer Geste zu einer Stahltür, die halb in die Wand versenkt war.
»Ich würde euch ja gerne gehorchen, Mylady«, antwortete er und hustete. »Aber ich besitze keinen Schlüssel zu den Kammern. Die Gefängnisverwaltung von Lord Joras hat sie. Ich bin nur dafür zuständig, dass hier keiner verhungert und dass die Wasserleitungen im Winter nicht einfrieren. Für das erste habe ich einen Essensaufzug.« Wieder eine Geste, diesmal in Richtung einer Klappe am anderen Ende des Raumes. »Und die Leitungen drehe ich hier unten auf. Die Gefangenen bekomme ich nie zu Gesicht.«
Summer spähte verstohlen zum Tisch. Der Lappen war verschwunden und ebenso der Schlüssel, der darunter gelegen hatte. Ein geschickter Trick. Ärger wallte in ihr auf. Doch sie hielt sich zurück und überließ Beljén das Reden.
»Ich bedaure, Euch nicht helfen zu können«, fuhr er fort. »Aber ich bin nur ein Diener und …« Während er noch redete, schrak Beljén zusammen und wandte den Kopf, als hätte sie von fern einen Ruf gehört. Sie trat einen Schritt zurück, hob wie in Trance
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