Ascheherz
überhaupt keinen Verführer, nur eine Gelegenheit. Und natürlich bekommen sie die Gelegenheit auch von mir. Und offenbar denkt Indigo da ganz ähnlich. Warum sonst hätte er so leichtes Spiel mit dir gehabt?«
Summer biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Die Lady zupfte sich die Samthandschuhe von den Händen und ließ sie dort zu Boden fallen, wo sie stand. Dann trat sie zu Summer und legte ihr die Hand an die Wange. Sie war kalt und warm zugleich. Trotz allem tat es gut, die Verbundenheit zu spüren.
»Du denkst, es ist ein Vorwurf an dich?«, sagte die Lady freundlich. »Ja und nein, Tjamad. Du bist noch jung in deiner Zeit. Als Indigo dich gerufen hat, warst du noch nicht lange zur Zorya erwacht. Du hast dich noch blenden lassen. Das kann geschehen. Auch Beljén wäre nicht dagegen gefeit gewesen. Wie du jetzt weißt, kann ich die Faszination für das Menschliche durchaus teilen.«
»Ich bin erwacht? Was bedeutet das?«
Lady Mars Finger strichen ihr sanft über die Wange. »Meine arme Zorya«, sagte sie leise. »Du hast mit deinem Mantel so
viel von dir selbst verloren. Man merkt dir an, wie sehr du noch Mensch zu sein versuchst. Aber das wird sich legen. Bald schon.«
Der Blick aus grauen Augen war so intensiv wie eine Berührung. Ein Tasten in ihren Gedanken, und Summer zuckte unwillkürlich vor der liebkosenden Knochenhand zurück. Frag sie etwas, wechsle das Thema!
»Lady Mar - was sind wir wirklich? Woher kommen wir? Werden wir geboren, wie die Menschen?«
»Ganz sicher nicht. Die meisten von euch erschaffen sich selbst.«
»Wie?«
»Du warst jemand, der so verzweifelt leben wollte, dass er einer anderen Zorya die Existenz stahl. So entsteht ihr. Ich schenke euch so etwas wie ein Leben. Ihr bringt dafür den Tod. So lange, bis ihr ein Mädchen oder eine Frau küsst, deren Willen zu leben stärker ist als ihr.«
»Dann war ich also ein Mensch, bevor ich zur Zorya wurde?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Wer?«
»Eine Fischerstochter. Du bist ertrunken. Unter Wasser hast du dich an die Zorya geklammert, die dich erlösen wollte.«
»Deshalb fürchte ich mich also vor dem Wasser.«
»Oh nein, nicht deshalb«, meinte Lady Tod. »Zorya mögen im Allgemeinen kein Wasser. Wir sind Geschöpfe der Luft. Sie ist unser Element. Wir haben Flügel, keine Flossen. Asche im Wind ist uns lieber als Gischt auf dem Meeressand. Im Wasser herrschen andere Gewalten als wir. Es ist das Element der Tandraj. Sie sind uns so fremd, dass wir nicht einmal ihre Sprache verstehen. Sie haben ganz andere Formen des Verlöschens als den Tod, den wir kennen. Das Wasser, das ihr Element ist, steht für das Leben. Wir können es nutzen, um uns davontragen zu lassen, aber Wesen wie
die Tandraj hassen uns und wir sie. Manchmal führen wir gegen sie Krieg - um Städte, um Gebiete, um die Vorherrschaft. Das sind die einzigen Kämpfe, die ich wirklich um unsretwillen ausfechte. Das war seit Anbeginn der Zeit so und wird immer so sein. Nein, dein menschliches Leben ist damals unwiderruflich erloschen, und auch jede Erinnerung daran. Ich habe dich verwandelt. Du bist zu etwas anderem geworden, nur dein Lebensfunke ist geblieben. Und ich habe ihm eine Gestalt gegeben, die den Menschen gefallen würde.« Sie senkte die Stimme. »Würdet ihr euch wirklich erinnern, Menschen gewesen zu sein, dann würdet ihr nur versuchen, wieder zu dem zu werden, was ihr wart.«
»Und nur Mädchen und Frauen können auf diese Art zur Zorya werden? Was ist mit … Anzej? Bringt er nicht den Tod?«
Lady Mar schüttelte den Kopf. »Die männlichen Zorya haben andere Aufgaben. Sie sind mein Verbindungsglied zu den Menschen. Sie sind aus Wind gemacht, und den Lebensfunken haben sie selbst gefunden. Sie sind mit uns verbunden, sie können jede Zorya aufspüren, die sich finden lässt. Sie sind die Einzigen, deren Flügelmantel in der Lage ist, eine andere Zorya darin einzuhüllen und sie an jeden Ort zu bringen. Es geschieht manchmal, dass eine Zorya nicht sofort zurückfindet. Dann ruft sie den Sucher. Und die Sucher sind es auch, die jede neu erwachte Zorya zu mir bringen.«
»Aber für jede, die erwacht, stirbt eine andere«, sagte Summer. »Und wer … schenkt uns diesen Tod?«
Lady Mar trat einen Schritt zurück und betrachtete ihre Hand, die Knochenglieder unter der durchsichtigen Haut. Dann ließ sie den Blick über das Land schweifen. In der Ferne stieg immer noch Rauch auf.
»Wir verlöschen einfach wie Funken im Wasser«, sagte sie
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