Ascheherz
setzte eine mürrische Miene auf. »Na ja, setz dich von mir aus, aber bitte heul mir nicht wieder den Tisch voll.« Aber seine Augen leuchteten und ihr fiel auf, dass er sich sorgfältig rasiert hatte. Die Karten lagen säuberlich aufgestapelt auf dem Tisch, als hätte er darauf gehofft, bald wieder Gesellschaft zu haben. Summer nahm ihre Maske ab und legte sie auf das weinfleckige Holz.
»Der Einzige, der heute weinen wird, bist du, Tellus.« Sie griff nach den Karten. »Wenn du siehst, dass du deine Meisterin gefunden hast.«
Es war kalt geworden in den Kammern. Bald würde es hell werden und Summer konnte die Mosaikböden und die Fensterverzierungen heute viel deutlicher sehen. Bevor sie zu Loved ging,
spähte sie in die Räume, die nicht abgeschlossen waren, und fand in einem davon aufgestapelte Decken und Stühle. Mit zwei Decken im Arm trat sie dann auf Zehenspitzen in Loveds Kammer. Tellus war nicht der Einzige, der auf eine Rückkehr gehofft hatte. Auch Loved war wach. Er saß unter dem Fenster, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme auf die Knie aufgestützt, und beobachtete die Tür. Auf den ersten Blick fiel ihr auf, dass er keinen Verband mehr trug. Obwohl er ihr weder zulächelte noch sie begrüßte, sah sie doch, dass ein flüchtiges Leuchten über seine Miene huschte.
Er sagte nichts, als sie zu ihm kam und sich schweigend neben ihn setzte. Mit bangem Herzen saß sie da und suchte nach Worten. Sie schielte verstohlen nach links und verglich ihn wieder mit dem Mann, der im Thronsaal auf dem Krankenbett gelegen hatte. Er ist ihm so ähnlich, dachte sie niedergeschlagen. Und gleichzeitig nahm sie seine Nähe wahr und wünschte sich, sie könnte einfach seine Hand nehmen und alles andere vergessen.
»Ich möchte dir glauben, dass du nicht Indigo bist«, sagte sie nach einer Weile. »Bitte erzähl mir, was damals geschehen ist.«
Loved schüttelte den Kopf. »Wir stehen hier nicht auf Augenhöhe, Shena«, erwiderte er ruhig. »Ich bin ein Gefangener. Und ich werde den Teufel tun und dir das Messer in die Hand geben, mit dem du mir die Kehle durchschneiden kannst.«
»Du warst es doch, der mir in Maymara die Kehle durchschneiden wollte! Und darf ich dich daran erinnern, dass ich vor wenigen Tagen noch deine Gefangene war?«
Zu ihrer Überraschung sah sie, dass er leicht errötete. Er zupfte an den Handschuhen. Etwas Düsteres schien ihn zu umgeben. In der zweiten Wirklichkeit nahm sie es als schattiges Vibrieren wahr, als würde auch er einen inneren Kampf mit sich ausfechten.
Sie nahm trotzdem ihren Mut zusammen und fuhr fort: »Hast du mich zweihundert Jahre lang so sehr gehasst und gesucht?«
»Nicht jeden Tag«, antwortete zögernd. »Es gab natürlich Jahre, da habe ich nichts anderes getan, als dich zu suchen. Und Jahre und auch Jahrzehnte, da war ich damit beschäftigt, dich zu vergessen. Ich versuchte, das Beste aus der Ewigkeit zu machen. Ich reiste viel. Aber du warst wie ein Fieber, das immer wiederkam. Immer wenn ich Musik hörte, musste ich hingehen und dich im Publikum suchen.«
»Bis du mich gefunden hast.«
»Ich hätte dich unter jeder Maske sofort erkannt.«
Er sah sie von der Seite an. Sie spürte den Blick wie eine Berührung.
Der Überfall in der Gasse von Maymara erschien wieder vor ihren Augen und ließ sie frösteln. Als hätte er es gespürt, wandte er den Blick ab und biss sich auf die Lippen.
»Ich hielt es im Theater nicht aus«, sagte er leise. »Es ist eine Sache, jemanden so lange zu suchen. Und eine ganz andere, ihn dann plötzlich zu finden. Und dann auch noch … so. Mit langem Kleid und dem Schmuck im Haar.« Seine Stimme wurde leiser und verlor an Klang, als würde ihm etwas die Kehle zuschnüren. »Es war, als wäre kein einziger Tag vergangen seit … damals.«
»Und du bist mir gefolgt. Um mich zu töten.« Dafür, dass ich dein Herz genommen habe.
»Ja und nein. Ich hatte mir eingeredet, dass ich mich nur rächen will. Ich verließ das Theater und trank in irgendeiner Kaschemme zu viel Schnaps. Ich war durcheinander, und als ich zum Theater zurückkam, warst du fort. Aber ich wusste, wo ich dich suchen musste. Dort, wo die Musik spielte. Und da sah ich dich. Tanzend mit diesem … blonden Bühnenvogel.« Die letzten beiden
Worte spuckte er mit so großer Verachtung aus, dass Summer aufhorchte. »Und als ich euch folgte und sah, dass du ihn küssen wolltest, da … wusste ich wieder, dass ich dich hasste.«
»Das hört sich eher an, als
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