Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
aufzuschreiben. Es waren seltsame Gedichte, fremdartig wie eine exotische Sprache. Sie reimten sich nicht und dennoch war eine Melodie darin. Ich liebte deine Worte, schon als ich sie das erste Mal hörte. Das warst ganz du. Und ich beschloss, dir auch meine wahre Stimme zu zeigen und habe die Musik für deine Gedichte erfunden. Küsse allein verlöschen so schnell. Aber unsere Seelen haben einander gehört.«
    Seelen. Allein für diesen Satz liebte sie ihn.
    »Es waren also nicht nur die Küsse«, fuhr er ernst fort. »Es war alles zusammen. Dein Lachen, deine Wut und deine Art zu streiten, als ob du einen Krieg gewinnen müsstest. Die Ernsthaftigkeit, mit der du dich bemüht hast, das Fechten zu erlernen. Die Vorsicht, mit der du die Winterblüten in deinen Händen gehalten hast, die Faszination für alles, was lebt und vergeht.«
    Das sind also die Lieder, dachte sie. Jetzt beginnt es zusammenzupassen.

    »Singst du ein Lied für mich?«, bat sie. »Eines, für das ich die Worte geschrieben habe?«
    Zu ihrer Überraschung änderte sich die Stimmung auf einen Schlag. Als hätte ein eisiger Wind die Wärme ausgelöscht, fiel wieder der Schatten über seine Miene, und sie wusste beim besten Willen nicht, was sie Falsches gesagt hatte. Er warf ihr einen Blick zu, als hätte sie ihn gebeten, aus dem Fenster zu springen.
    »Bedaure«, murmelte er. »Ein gefangener Vogel singt im Käfig nicht für Publikum.«
    Summer schüttelte den Kopf und sprang vom Fensterbrett. »Dann gehe ich wohl besser«, gab sie ebenso frostig zurück. »Und störe dich nicht dabei, deine Lieder hier ohne mich zu singen.«
    »Summer?« Sie war schon an der Tür. Nur widerwillig blieb sie stehen. »Du glaubst mir immer noch nicht, stimmt’s?«
    Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie drehte sich um.
    »Nicht ganz«, gab sie zu. »Ich würde es so gerne, aber in meinen Träumen erkenne ich Indigos Gesicht nicht. Doch er ist genauso groß und dunkelhaarig wie du. Und er liebte die Musik.«
    »Und?«, meinte Loved. »War er Linkshänder?«
    Summer stutzte. Dann klappte ihr vor Verblüffung der Mund auf. »Nein!«, rief sie.
    Loved zog den linken Mundwinkel zu einem ironischen 3Lächeln hoch und blickte wieder aufs Meer hinaus. »Tja, dann denk mal darüber nach.«

    Sie rutschte fast ab, als sie die Leiterstiegen hinunterkletterte, so fahrig war sie. Unten angekommen, schob sie nicht den versteckten Durchgang auf, sondern blieb an die Wand gelehnt stehen.
Sie schloss die Augen und rief sich jede einzelne Sequenz, die sie während des Tribunals durchlebt hatte, wieder ins Gedächtnis.
    Indigo auf dem Thronpodest. Seine Hände, behandschuht wie die aller Männer zu jener Zeit. Dann machte er die Geste, mit der er alles umfasste, was sie sah und hörte, ihr die Musik und das Licht versprach - und es war die rechte Hand. Ein paar Tage später saß Indigo in seiner Prunkkammer an einem Schreibtisch. Er hatte immer noch kein Gesicht, aber sie erkannte deutlich, dass er den Brief auf altmodische Art mit einer Schwanenfeder mit rechts schrieb. Mit derselben Hand reichte er ihr einen Weinbecher, trank selbst aus einem, dirigierte seine Musiker, pflückte Winterblüten vom Baum und spielte Schach mit ihr.
    »Loved ist nicht Indigo!«, sagte sie zu der Dunkelheit. Dann überwältigte die Erleichterung sie so jäh, dass ihre Knie nachgaben und sie an der Wand entlangrutschte, bis sie auf dem Boden saß. Wie groß die Last gewesen war, spürte sie erst jetzt, als sie von ihr wich und sie schwebend und losgelöst in die Schwärze blickte und einfach nur noch glücklich war. Ich kann tatsächlich beides sein! Ich liebe - und ich bin eine Zorya mit meinem ganzen Herzen. Ich kann meine Aufgabe erfüllen und dennoch Loved küssen.
    Ein Knistern ließ sie aufhorchen. Dem Geräusch folgend, tastete sie nach ihrem Rock, zog ihn aus dem Gürtel, bis er wieder über ihre Beine fiel. Das Knistern wurde lauter und kam eindeutig aus ihrer rechten Tasche. Dort, wo sie immer noch die leere Lederhülse ihres Taschenmessers verwahrte. Wie lange hatte sie nicht mehr an die rote Puppe gedacht, die sie auf dem Schlachtfeld gefunden und darin verborgen hatte? Die Hülse war immer
noch leer, aber ein bernsteinfarbener Schein fiel auf ihre Finger. Sie blinzelte und sah genauer hin. Und hätte vor Freude beinahe aufgeschrien. Fühler tasteten sich daraus hervor, dann winzige Insektenbeine. Ein Totenkopffalter kletterte aus der Hülse, leuchtend in der zweiten Wirklichkeit und so

Weitere Kostenlose Bücher