Ascheherz
als hätte sie wieder einen Verrat begangen.
»Wer bin ich?«, flüsterte sie der Barke zu. »Ich will eine Zorya sein, ich gehöre zu ihnen. Ich weiß, ich muss meine Aufgabe erfüllen. Aber warum liebe ich dann wie ein Mensch?« Und was ich auch tue, ich werde immer eine Seite verraten , setzte sie in Gedanken hinzu.
Nicht einmal die tröstliche Umarmung des Schiffes konnte sie beruhigen. Nur ein Lied, das ihr wieder in den Sinn kam und ihr zeigte, dass die Frau in Weiß sich dieselbe Frage wie sie gestellt hatte. »Mein wahres Sein«, flüsterte sie. Sie setzte sich auf, zog die Beine an den Körper und sang, bis sie wie ein Mensch müde wurde und endlich einschlief.
Sommerblätter
abendschwarz
trinken
Gedanken -
in ihren Venen kreisend
mein wahres Sein.
Sie erwachte von einem schabenden Geräusch. Etwas strich an der Barke entlang. Als Summer aus dem Bernsteinraum kletterte, entdeckte sie im Wasser den riesigen Hai mit der schartigen Rückenflosse. Das matte Auge schien sie zu betrachten. Dann ertönte schräg hinter ihr ein leises Patschen wie von kleinen Füßen. Wasser spritzte in einer Fontäne bis auf das Deck.
»Bist du die Frau von Tänzer Licht?«, ertönte eine Kinderstimme.
Summer stürzte zur Heckseite der Barke und beugte sich tief über die Reling. Unten im Wasser schwamm das Mädchen mit den schwarzen Locken, das sie schon einmal auf den Felsen gesehen hatte. Der Hai glitt träge heran und das Kind stieß sich ohne Angst flink an dem massigen Körper ab und kletterte wieder auf den Felsvorsprung. Es trug eine Art Schwimmanzug aus zusammengenähten Fischhäuten. Sogar jeder einzelne Finger war darin eingenäht. Und jetzt erkannte Summer, dass das Kind große Ähnlichkeit mit den hellen Gestalten der Tandraj hatte. Die Augen, die in diesem verstörenden Blau leuchteten, und die weiße Haut. Aber warum wagte sich ein Tandraj-Mädchen so nahe an die Zorya heran? Vielleicht bin ich doch menschlicher, als ich dachte. Ich müsste die Tandraj doch hassen .
»Tänzer Licht? Ich … weiß nicht genau. Vielleicht kann ich es dir sagen, wenn du mir erzählst, wer das ist?«
Das Kind runzelte die Stirn, als wäre es unvorstellbar, dass jemand nicht wusste, von wem es hier sprach. »Na, der Mann, der die Toten holt! Der Einzige, der selber nicht stirbt. Und du legst ihm die Toten dann auf die Tannenschwelle.«
Summer war so überrumpelt, dass sie lachen musste. »Oh«, meinte sie. »Tja, wenn das so ist, dann … ja. Bin ich eindeutig die Frau von Tänzer Licht.«
Jetzt strahlte das Mädchen sie an und grinste dabei so breit, dass Summer die Zahnlücken sah. Das erklärte den winzigen Milchzahn, den sie im Tausch gegen Morts Katzenkopf erhalten hatte.
»Weißt du, ich habe dich gleich erkannt«, sagte das Mädchen voller Stolz. »Als du vom Schiff gesprungen bist. Du hast geglänzt wie ein Schmetterling, der unter Wasser fliegt. Du hast das Licht ins Meer gebracht. Die anderen Haie sind alle von dir weggeschwommen. Da wusste ich, dass du bestimmt was mit Tänzer Licht zu tun hast.«
»Ja, ich weiß, du folgst mir schon ziemlich lange.«
»Wir!«, sagte Mädchen leicht eingeschnappt. »Zia ist auch noch da.«
»Dein Hai heißt Zia?«
Jetzt schien sie das Kind wirklich verärgert zu haben.
»Das ist nicht ›mein Hai‹, sondern meine Schwester. Wir bleiben immer zusammen.«
»Du stammst von den Fischen ab? Oder können die Tandraj die Gestalt wechseln?«
Das Mädchen sah sie an, als hätte Summer nicht alle Tassen im Schrank. »Mein Vater und meine Mutter sind bestimmt keine Fische«, erklärte sie würdevoll.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Frierst du nicht schrecklich? Magst du zu mir auf die Barke kommen?«
Das Kind schüttelte empört den Kopf. Zia strich nervös vor ihm herum. Summer fröstelte, als der gewaltige Haikopf sich aus dem Wasser hob. Das Haimaul klaffte auf und zeigte einen roten Schlund mit Reihen von Zähnen, so lang wie Summers Finger. Doch das Mädchen streckte die Hand nach dem Ungeheuer aus, ohne hinzusehen, und tätschelte die dreieckige Nase.
»Alles gut, Zia, die tut mir nichts!« Sie beugte sich vor, als der Hai ins Wasser zurücksank. Und da erst sah Summer das Spiegelbild des Mädchens. Weiß glühende Augen und ebenso weißes Haar, schwarzblaue Haut und dämonische Züge. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.
»Du … bist ja gar kein Tandraj-Mädchen. Du gehörst zu den
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