Ascheherz
Entsetzliches antun konntest.
In welch sicherem Kokon sie in den vergangenen Tagen und Wochen gelebt hatte, bekam sie zu spüren, als sie die Halbinsel endgültig verließen. Lord Teremes’ Truppen waren weit vorgedrungen. Explosionen ertönten in der Ferne und diesmal war der Rauch nicht nur eine malerische dunkle Säule, die man aus sicherer Entfernung durch das Fernglas betrachtete. Er war erschreckend nah, und der stechende Geruch hing in der Luft.
»Wir umgehen das erste Lager und stoßen in zwei Tagen zum Fluss«, erklärte Beljén. »Dort werden wir die Soldaten an der Grenzlinie ablenken. Und dann müssen wir dich verlassen.« Sie bemühte sich zwar um einen beiläufigen Tonfall, aber sie drückte bei diesen Worten Summers Hand so fest, dass es wehtat.
Sie erreichten den Fluss spät in der Nacht, erschöpft von der Anspannung der vergangenen Tage. Die Truppen, die am Fluss die Stellung hielten, waren von einem Boten informiert worden. Es war gespenstisch, wie genau und ohne zu zögern sie nach dem Plan, den Lord Joras und die Lady entworfen hatten, agierten. Auch Summer kannte ihre Rolle. Lange vor Morgengrauen, als Lord Joras’ Soldaten sich schon bereit machten und ihre Gewehre luden, umarmte sie zum letzten Mal ihre Freundin. Es war Teil des Plans, dass Beljén heute ein auffallendes Kleid aus elfenbeinfarbener Seide trug. Das Gewehr in ihrer Rechten war ein irritierender Gegensatz dazu. »Ich wünschte, ich könnte dir meine Unverwundbarkeit schenken«, sagte Beljén mit erstickter Stimme. Und brach zu Summers Bestürzung in Tränen aus. Summer küsste sie und strich ihr über das Haar. Um keinen Preis hätte sie zugegeben, wie sehr ihr der Abschied selbst zu schaffen machte. »Mach dir keine Sorgen um mich«, fügte sie hinzu. »Ich werde ihn bald finden. Und in ein paar Tagen bin ich wieder bei euch.«
Auch Anzej war blass. Er blieb abwartend in einiger Entfernung stehen, aber Summer trat zu ihm und umarmte ihn ebenfalls. Zwei Zorya, die ein Stück Menschenleben teilen , dachte sie und musste lächeln. »Viel Glück«, flüsterte er ihr ins Ohr. Und
sie nickte, drückte ihm ihre Maske in die Hand und huschte davon. Im Schatten des aus Felsbrocken und Stämmen aufgerichteten Verteidigungswalls lief sie, bis sie weit genug entfernt vom Geschehen war. Auf der gegenüberliegenden Seite erkannte sie nun einen weiteren Wall mit Schießscharten und der Lücke, die Lord Joras’ Männer ausgespäht hatten. Die erste Explosion erschütterte die Luft und sprengte ein Stück Wall auf der Gegenseite, doch Summer wartete ab, bis auch Lord Teremes’ Truppe auf die überraschende Attacke mitten in der Nacht reagierte und ebenfalls das Feuer eröffnete. Aus der Ferne sah sie, wie Beljen, die hinter dem Wall kauerte, ihr das Zeichen gab.
Summer zählte noch bis zehn, dann rannte sie geduckt los.
Das Wasser war um diese Jahreszeit bereits zu kalt, als dass ein Mensch länger als wenige Minuten darin ausgehalten hätte. Wie erwartet, trieb die Strömung sie ein weiteres Stück ab, aber sie vermied es, zu deutliche Bewegungen zu machen. Endlose Minuten harrte sie flach liegend im Uferwasser aus.
Rufe trieben über den Fluss. »Da! Eine von ihnen!« Dann krachte eine Salve von Gewehrschüssen los. Summer kroch am anderen Ufer an Land und schaute zu Beljén. Das Ablenkungsmanöver war ein atemberaubendes Schauspiel. Beljén stand stolz aufgerichtet auf dem Wall. Ihr helles Kleid leuchtete im Licht von Scheinwerfern und flatterte im Wind. Die ausdruckslose Bronzemaske und das Gewehr an ihrer Schulter gaben ihr die Anmutung einer grimmigen Kriegsgöttin. Schuss für Schuss feuerte sie, während keine einzige Kugel von der Gegenseite sie verletzte. Summer erreichte den Wall und kletterte auf Händen und Knien zu der durchbrochenen Stelle. Kurz bevor sie hindurchschlüpfte, warf sie einen letzten Blick über die Schulter und sah, wie Anzej hinter Beljén trat. Sie warf das Gewehr fort und hob die Arme.
Anzej umarmte sie und hüllte sie in seinen Mantel ein. Dann verblassten sie beide und waren fort.
Im Lager herrschte die kühle Hektik eines gut koordinierten Kampfes. Alle Augen waren noch auf das gegenüberliegende Ufer gerichtet, als Summer sich zwischen den Zelten durchschlug. Als ein Soldat sie entdeckte und auf sie zukam, ließ sie sich fallen, als sei sie völlig erschöpft.
»Blissa Tomlin!« Sie zeigte ihm die Tätowierung und ihre Nummer. »Sie haben mich gefangen genommen. Aber ich konnte fliehen.« Die
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