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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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kräftigen Stoß mit dem Spaten hebelte sie die Klappe auf. Widerwillig gab das Erdreich das Tor zur Unterwelt frei.
    Loved sah sie ernst an. »Bist du bereit?«, fragte er. Sie nickte hastig und wischte sich die nassen, geschundenen Finger an der Jacke ab. »Bereit. Gehst du vor?«
    Eine Steintreppe führte noch tiefer in die Erde. Ohne ein Wort fassten sie sich an den Händen und tasteten sich im Kegel der Taschenlampe Schritt für Schritt in ihre Vergangenheit zurück. Der Geruch von Stein und altem Holz schlug ihnen entgegen. Und noch etwas roch trocken und auch ein bisschen muffig. Altes Leder? Pergament? Ein schmaler Gang führte an zwei winzigen Kammern vorbei und von dort zu einem Durchgang, der erst in Höhe der Knie begann. Immer noch kam ihr nichts bekannt vor.
    »Das war der Eingang hinter dem Spiegel.« Loveds Stimme klang dumpf, Staub hinterließ einen hellen Streifen auf seinem Mantel, als er sich durch den Spalt schob. Summer nahm ihren
ganzen Mut zusammen und folgte ihm. Das Erste, was ihr auffiel, waren Gewölbebogen. Und Tapeten aus Leder. Endlich wagte sich eine Erinnerung aus der Dunkelheit ins Licht. »Blau und gold«, flüsterte sie andächtig. »Indigo hat sie nach meinen Zeichnungen bemalen lassen. Ich liebte dieses Blau!« Sie nahm Loved die Taschenlampe aus der Hand. Und während sie in das riesige Zimmer hineinging, sich langsam drehend, erfasste die Taschenlampe Stück für Stück ihrer Vergangenheit.
    Das Verrückte war, dass die Zeit hier unten so stillzustehen schien wie eine letzte Lebenssekunde. Der Spiegel neben dem Kamin war zwar angelaufen, aber unversehrt. Der Kamin war verstopft. Zu viel war im Laufe der Jahre in den Schacht geweht worden, schwarze Erde, Laub und Steine, die die Gewölberäume auch von oben verschlossen hatten. Der Anblick des Kamins schnitt Summer in die Seele. Loveds Herz. Hier hat es zum letzten Mal geschlagen .
    Rasch wandte sie sich ab. Und entdeckte das Bett. Zwei Schwanenskulpturen am Kopfende schickten sich an, sich anmutig in die Lüfte zu erheben. Die filigranen Federn waren aus Tausenden von Elfenbeinplättchen geschnitzt. Natürlich hatte das Bett keine Matratze, sondern war glatt und hart wie das Lager einer Zorya. Indigos teuerstes Geschenk. Es war, als hätte Summer das Elfenbeinbett gerade erst verlassen - nein, als hätte man sie eben hier überrascht und aus dem Bett gezerrt. Im Morgengrauen, als die Soldaten hereinstürmten und sie fesselten, während sie noch halb im Traum war und der Platz an ihrer Seite noch warm von Loveds Haut. Die staubige Seidendecke hatte zwar die Farbe und feine Struktur verloren, aber sie lag immer noch auf dem Boden. Daneben lagen die nun matten Scherben der Karaffe, die sie im Kampf mit den Soldaten vom Tisch gestoßen hatte.

    Ich empfinde … nichts , dachte sie verwundert. Als wäre ich völlig leer!
    Stattdessen war es Loved, der den Anblick nicht ertrug. Er trat entschlossen zum Bett und riss mit einem wütenden Schwung alles herunter, was noch darauflag: Felle, Seide und zusammengesackte Kissen. Eine Staubwolke erhob sich in die Luft. Muffiger Geruch nach Erde und altem Tier. Dann holte er das Feuerzeug und die Harzkerzen hervor, die die Tierläufer ihnen geschenkt hatten, entzündete sie und platzierte sie neben dem Kamin. »Ich muss den Kamin freiräumen«, sagte er unwillig. »Zwar können wir das Risiko nicht eingehen, ein Feuer anzumachen, aber wir brauchen zumindest einen Schacht, durch den Luft hereinkommt.«

    Es war ein unwirkliches Gefühl, spät in der Nacht auf das Bett zu kriechen. Sie hatten es an die Wand geschoben, als wollten sie das Zimmer so sehr wie möglich verändern. Ihre eigenen Felle und Mäntel lagen nun darauf. Die restlichen Möbel und den Spiegel hatten sie in den kleinen Kammern verstaut. Der Kamin war vom gröbsten Unrat befreit.
    »Hier findet uns niemand«, sagte Loved. »Zumindest nicht, bis der Sturm auf die Zitadelle vorbei ist. Danach können wir immer noch bei den Tierläufern überwintern. Oder wir versuchen in ein paar Wochen, nach Kars zu kommen. Mit etwas Glück schaffen wir es vor den Eisstürmen, dann fahren die Schiffe noch.«
    »Nach Süden?« Ihr eigenes Flüstern kam ihr unendlich laut vor.
    Die Zukunft schimmerte vor ihr auf - eine Verlockung aus Farben und Wärme. Wenn du es nicht sagst, wird er es nie erfahren , flüsterte eine eifrige, verschwörerische Stimme in ihr. Alles wäre
so einfach. Nur eine Lüge mehr, und ich muss dazu nicht einmal den Mund

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