Ascheherz
diesmal gehorchten ihre Schwärmer ihr nicht. Obwohl sie nicht frieren konnte, deckte sie sich mit allen Fellen zu, die sie finden konnte. Zurückgeworfen auf sich selbst, schlief sie ein und träumte von dem Moment, in dem sie Loveds Herz in ihrer Hand gehalten hatte, um ihn ganz in Besitz zu nehmen - ohne zu ahnen, dass man Menschen auf diese Art am schnellsten verliert.
das lied der dinge
I n dieser Nacht schlief sie so tief, dass sie beim Erwachen lange nicht wusste, wo sie war. Traum und Wirklichkeit überlagerten sich, bis sie endlich wieder zu sich selbst fand. Sie erinnerte sich daran, dass sich das Menschenmädchen in ihr gestern nichts sehnlicher gewünscht hatte, als Loved zu folgen. Und daran, dass die Zorya dazu viel zu stolz gewesen war.
Jetzt stellte sie fest, dass zumindest für heute das Menschenmädchen den Kampf gewonnen hatte.
Immerhin hatte die windstille Nacht die Spuren nicht verwischt. Im Morgengrauen sah sie die Abdrücke seiner Stiefel im Schnee. Sie führten nicht zur Ruine, sondern direkt zum Plateaurand. Im ersten Moment fürchtete sie, er könnte gestürzt sein, aber als sie keuchend und atemlos an der Bruchkante ankam, entdeckte sie einen Steilweg, der im Zickzack an der Felswand hinunterführte. Nun, zumindest war es so etwas Ähnliches wie ein Weg. Abgerissene Wurzeln zeigten, dass Loved sich hier heruntergehangelt hatte. Eine halsbrecherische Kletterpartie brachte sie an eine halbmondförmige Ausbuchtung am Fjord. Kies und Sand bildeten hier eine lang gezogene Strandkuhle in Form eines schmalen Sichelmondes. Und ganz vorne, an der Spitze, entdeckte sie ihn. Er saß auf einem der Uferfelsen mit dem Rücken zum Land und blickte
aufs Meer hinaus. Ein paar Schritte hinter ihm lag der Rucksack, als hätte er ihn einfach achtlos dorthingeworfen.
Summer nahm nicht den Weg über die Felsen, sondern die Abkürzung durchs eisige Meer, watete durch das knietiefe Wasser und kletterte dann neben Loved auf den Stein. Er sah sich nicht nach ihr um, richtete sich nur ein wenig mehr auf. Erst wollte sie sich an den Rand des Felsens setzen, aber dann rückte sie so nah an ihn heran, dass ihre Arme sich berührten.
»Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich dich angelogen hätte?«, fragte sie.
Ein Südwind raute die Wasseroberfläche auf. Und unweit von ihnen tauchte kurz eine schartige Haifinne auf und verschwand wieder. Summer starrte auf die Wellen, aber Dajee tauchte nicht auf. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht.
»Weißt du, was das Verrückte ist?«, sagte Loved mit rauer Stimme. »Es ist völlig gleichgültig, was du sagst oder tust. Gestern war ich so wütend, dass ich dich am liebsten erwürgt hätte. Und ich hatte tatsächlich vor, fortzugehen. Aber ich konnte es nicht. Es ist, als würde ich unter einem Bann stehen, der mich dazu zwingt, dir mein Leben lang nachzulaufen.«
Jetzt musste Summer trotz allem lächeln. »Na ja, im Augenblick laufe ich dir nach. Und ich weiß, ich kann nicht wiedergutmachen, was ich getan habe. Aber bitte beantworte mir eine Frage - nur damit ich dich wirklich richtig verstehe. Du hast mich aus vollem Herzen gehasst, obwohl nichts in deiner Brust schlug. Du liebst mich so sehr, dass du sogar Indigo gehen lassen konntest. Du liebst auch Musik und Poesie - auf eine andere Art. Und als ich dich bei den Tierläufern gesehen habe, warst du glücklich. Und das alles empfindest du mit einem Herzen, das nicht mehr in deiner Brust schlägt. Vielleicht …«
»… hängt mein Glück und Unglück gar nicht davon ab?« Er betrachtete die Narben an seinen Händen. Dann nahm er ihre Hand und strich mit dem Daumen abwesend über ihren Handrücken. Unsichtbar für Loved flatterten ihre Falter vor dem Felsen dicht über dem Wasser dahin.
»Ich meinte ganz ernst, was ich gestern sagte«, sagte Summer. »Ich habe auch etwas verloren, das ebenso kostbar war. Ich habe meine Narben auf dem Rücken. Aber es sind nur Narben. Keine Wunden mehr.«
»Und ich habe wieder die ganze Nacht darüber nachgedacht, warum du mich damals auf dem Richtplatz mit solcher Verachtung angesehen hast. Mir den Kopf darüber zermartert, warum du in Indigos Armen gelegen hast. Aber dann erkannte ich, dass die Antwort gar keine Rolle spielt. Du hast recht! Wir sind beide nicht mehr, wer wir waren. Vor so vielen Jahren hieß ich Amand. Ich war der Sohn eines Schmieds, siebzehn Jahre alt, ein Junge mit dem Kopf voller Abenteuer. Ich habe mich in die Verlobte meines Herrn verliebt, ein stolzes
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