Ascheherz
du dich sehr verändert, seit Farrin dich auf der Nymphea aufgelesen hat. Oder du hast dich bemerkenswert gut verstellt. Wo ist das doppelgesichtige Mädchen, das vor allem und jedem Angst hatte?«
»Das bin ich noch«, sagte Summer ernst. »Das und viel mehr. Wie jeder Mensch. Ich habe Angst, ich bin nicht besonders stark. Ich bin feige und ich lüge viel zu oft und schnell. Ich war Tjamad, eine Zorya, und nun bin ich Summer. Raupe und Falter.«
Ohne Flügel , setzte sie in Gedanken hinzu.
»Ich kann dich nicht gehen lassen«, sagte Moira. »Das weißt du. Wenn ich mich jetzt auf Lady Mars Seite schlage, dann wäre alles nichtig, wofür ich gelebt habe. Dann werden Menschen sterben.«
»Nicht um des Sterbens willen. Das Ende des Todes wird nicht das Ende des Leids bedeuten.«
Moira schluckte. Ein Schatten fiel auf ihre Züge.
»Ich hatte einen Freund«, sagte sie nachdenklich. »Er ist verwundet worden im Krieg um meine Stadt. Er … hieß Delur. Wir kannten uns, seit wir Kinder waren, wir sind gemeinsam an einen Lord als Tributzahlung abgetreten worden. Sechs Jahre alt waren wir damals. Und ich kann nicht zählen, wie oft wir einander gerettet
haben. Er ist der einzige Mensch, der mir je wirklich etwas bedeutet hat. Ich saß bei ihm, als er auf dem Krankenbett lag. Es war so sinnlos. Die Wunde war schlimm, aber er hat die ersten drei Tage überlebt. Eine Weile schien es sogar, als ginge es ihm besser. In diesen Stunden redeten wir über all das, was wir uns nie gewagt hatten zu sagen. Über uns und darüber, dass zwischen uns viel mehr war als Freundschaft. Wir versprachen uns, dass wir uns nie trennen würden. Die Chancen standen gut. Der Krieg war vorbei, der Lord, dem wir gehört hatten, war darin umgekommen. Doch Lady Mar hatte das letzte Spiel mit uns noch nicht gemacht. Seine Wunde entzündete sich und ich konnte nur noch hilflos zusehen, wie er mit dem Tode rang.«
»Er hat mit dem Leben gerungen«, sagte Summer sanft. »Und verloren. Nicht Lady Mar oder eine von uns hat ihn verwundet, sondern ein anderer Mensch. Wir haben keine Waffen, wir können nur dort sein, wohin ihr uns ruft.«
Moira holte krampfhaft tief Luft. Und obwohl sie sich darum bemühte, ihrer Stimme diesen sachlichen Tonfall zu geben, der zu ihr gehörte wie das Schwarz und das Weiß, hörte Summer doch deutlich das Zittern heraus.
»Ich weiß noch, wie ich irgendwann sogar darum bat, dass er sterben kann«, sagte Moira. »Und bevor er einschlief, flüsterte er etwas, das ich nicht verstanden habe.«
»Den Namen. Ihren Namen.«
Moiras Waffe sank herab. »Kennst du sie?«
Summer schüttelte den Kopf.
Moira schluckte schwer und senkte den Kopf. Der Wind wehte das Haar vor ihr Gesicht, und als dieser Vorhang sich wieder hob, war ihr Gesicht immer noch unbewegt, aber nass von Tränen. »Zum Henker damit«, sagte sie und schniefte. »Aber es war
einfach zu früh. Er war dreiundzwanzig. Wir hatten unser Leben noch vor uns. Das erste Mal ein Leben ohne Krieg.«
»Es ist immer zu früh«, erwiderte Summer. »Unser Schritt ist schneller als der des Lebens. Das Leben braucht Zeit, wir nicht.«
»Der Einzige, der Zeit ohne Maß hat, ist… wie nennst du ihn? Indigo?«
Summer nickte und richtete sich noch etwas mehr auf.
»Lass mich zu ihm, Moira«, bat sie. »Er sollte vor zweihundert Jahren an einem Fieber sterben. Seitdem lebt er von gestohlener Zeit. Aber kein Mensch darf für immer leben.«
Moira schluckte, dann hob sie wie in Trance ihre Waffe.
An jedem anderen Tag wäre Summer nun zurückgewichen, voller Angst. Doch heute war sie Indigos Zorya.
»Wenn du mich tötest, gewinnt Indigo«, sagte sie mit fester Stimme. »Für die Ausgewählten wird es keinen Tod mehr geben. Indigo und seine Verschwörer werden die Macht darüber haben und ewig leben. Ihre Feinde werden sterben, ihre Freunde und Verbündete nicht. Aber ist der Tod nicht etwas, das jedem Menschen gehören sollte? Das euch alle gleich macht? Indigo allein kennt das Geheimnis, wie er uns töten kann. Es hängt also an dir und mir.« Sie senkte die Stimme. »Was ist ein ewiges Leben wert, Moira? Ohne Erneuerung, ohne Werden und Vergehen. Eine Seele braucht das Wachsen und sie ist bereit, zu vergehen. Was wird aus ihr, wenn sie in der Ewigkeit gefangen ist? Wenn nichts mehr einen Wert hat, weil nichts vergänglich ist?«
Moira umklammerte den Griff ihrer Pistole so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist.«
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