Ascheherz
Asche vielleicht oder aus verbranntem Papier. Die verdorrten Hände lagen auf der Brust, und auch ohne sie zur Seite zu ziehen, war Summer klar, dass sich darunter kein Herz mehr befand.
Sie hatte gewusst, was Trauer und Verlust bedeuteten, aber jetzt erfuhr sie, was grausame, glühende Rachsucht war. Der letzte Funke von Angst verglühte. Sie richtete sich auf und trat in den Raum. Ihre Falter zitterten in dem bläulichen Lichtschein. Und als Summer um Beljéns Bahre herumging, entdeckte sie in der Ecke einen weiteren Glaskasten, so groß wie eine Kleidertruhe, und darin eine weitere Zorya in der Gestalt einer etwa vierzigjährigen Frau mit weißem Haar.
Summer hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, beim Tribunal. Die Zorya schien in einer kauernden Haltung zu schlafen, ihr Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck und sie atmete flach und viel zu schnell. Ihr Seidenkleid war staubig vom Flügelstaub der Schneefalter, aber in der zweiten Wirklichkeit war sie nur in ihren Flügelmantel gehüllt, der aus ihren Schultern und Armen wuchs: schwarz-weiße Flügel von Schachbrettfaltern. Für einige schreckliche Augenblicke glaubte Summer sich selbst zu sehen - vor so vielen Jahren. Er wird auch ihr die Flügel nehmen . Und danach, wenn sie sterblich geworden ist, auch noch ihr Herz. Sie wird sterben, wie Beljén - und so viele andere.
Mit wenigen Schritten war sie bei ihr. Sie hämmerte mit der flachen Hand gegen das Glas, und tatsächlich schlug die Zorya die Augen auf. Ein weißer Ring lag um die Pupille und das Blau ihrer Iris war verblasst. Ihr Mund öffnete sich bei Summers Anblick. Eine Hand legte sich von innen gegen das Glas. Summer legte ihre von außen dagegen. Und sie hörten einander so deutlich, als würden sie ihre Masken tragen.
»Was ist geschehen?«, flüsterte Summer.
»Ich weiß es nicht«, antwortete die Zorya mit schwacher Stimme. »Ich wurde gerufen. Es war ein Mann mit einem blonden Bart und einem Lindenblatt auf der Schläfe.«
Lord Teremes , dachte Summer.
»Er … war wie betäubt. Neben ihm stand ein Kelch, den er halb leer getrunken hatte. Vielleicht war Gift darin. Er nannte noch einmal halb besinnungslos meinen Namen und verlor das Bewusstsein. Ich beugte mich über ihn und küsste ihn. Aber … seine Lippen … Es war, als würde ich Lava trinken! Der Staub, den ich einatmete, versengte mich.«
»Der Flügelstaub der Schneefalter«, sagte Summer mehr zu sich selbst.
Die Zorya holte mühsam Luft. »Der Staub war auf seinen Lippen, in seinem Bart - überall! Und dann … fiel ein Netz auf mich. Es brannte genauso schlimm. Ich versuchte es abzuschütteln und verhedderte mich darin. Ich wollte zu Lady Mar flüchten, doch ich konnte nicht. Ich stürzte und die Zeit … lief weiter. Ich … wurde sichtbar, ohne es zu wollen. Und dann war er da.« Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme schwächer. Die Hand rutschte am Glas hinunter und ihr Kopf sank herab. Auf ihren Armen: rote Striemen wie von glühenden Fesseln. Ein Netzmuster. Und der Flügelstaub.
Paradoxerweise blitzte vor Summers Augen die Gestalt von Dajee auf. Und Zia, die nicht vorwärts, sondern rückwärts schwamm. Das Rückwärtsleben. Das Gegenteil. Jetzt war es, als hätte jemand ihr auch noch den letzten Schleier vor den Augen weggerissen. Es war erschreckend logisch. Die Winterbäume und die Schneefalter stellten die Gesetze von Leben und Tod auf den Kopf. Im Winter blüht und wächst nichts. Alles Leben steht still. Kein Schmetterling
fliegt, kein Vogel legt Eier. Nur die Winterbäume gehorchen diesem Gesetz nicht. Und auch die Falter existieren im Gegenteil. Sie sterben, wenn alle anderen Falter leben, und leben im Winter, obwohl es allen Gesetzen der Natur widerspricht. Und das gibt ihnen die Macht, als Gift gegen den Tod selbst zu wirken.
Ein Schlag gegen die Scheibe. Die Zorya hatte die Augen weit aufgerissen und hämmerte mit kraftlosen Fäusten gegen das Glas. »Flieh!«, formten ihre Lippen. »Er …«
Aber Summer hatte schon längst reagiert. Sie schnellte zur Seite und wirbelte herum. Eisen knirschte auf Stein, als ein Messer neben ihr herabschnellte und sie verfehlte. Wieder zuckte die Klinge herab und Summer machte eine interessante Entdeckung: Liebe konnte sie beim Kampf mit Finten täuschen und ablenken, aber der Zorn war ein sehr viel besserer Kampfmeister. Mit einer Mühelosigkeit, die sie selbst erstaunte, parierte sie den Schlag des Linkshänders so mühelos, dass sein eigener Schwung ihn aus dem
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