Ascheherz
Windwirbel sie aus dem Gleichgewicht brachte. Einen Moment waren sie sich ganz nah, Indigos Augen weit aufgerissen. Dann traf sie ein Tritt oberhalb ihres linken Knies und schleuderte sie ein paar Schritte zurück.
Aus dem Augenwinkel erhaschte sie eine Bewegung. Ein Lidschlag der Ablenkung, in dem sie dennoch alles erfasste. Es war Moira. Der Wind wehte ihr braunes Haar senkrecht hoch und gab ihr das Aussehen einer Kriegsgöttin mit schmalen, berechnenden Augen. Summer spannte sich und wirbelte zu Indigo herum. Eine Sekunde zu spät. Den Biss des Eisens fühlte sie erst, als das Messer sich in ihre Haut bohrte und auf ihr Schulterblatt traf. Der Stich zuckte ihr durch den ganzen Körper, doch schlimmer war das Brennen. Flügelstaub!
Ihr Messer fiel ihr aus der Hand. Sie keuchte auf und ging in die Knie. Nein! Das ist verkehrt! Ich muss …
»Jola!«, befahl Moira. Und der Hund schoss los. Summer sah nur einen grauen Blitz, aber sie konnte nicht fliehen. Ich bin sterblich! , dachte sie nur noch. Dann schloss sie die Augen. Fell streifte sie, sie wartete auf den anderen Schmerz, doch dann war Jola fort - und Indigo schrie vor Überraschung und Empörung auf. Summer blinzelte und glaubte alles in Zeitlupe zu sehen: die Wucht des Aufpralls, Jolas Pfoten an seinem Schlüsselbein, Indigo, wie ihn der riesige Hund einfach fällte und er mit dem Hinterkopf auf das Dach schlug. Fänge, die sich in das linke Handgelenk bohrten. Das vom Staub matte, gebogene Messer, das seinen Fingern entglitt. Es schlitterte mit einem metallischen Schaben über das Dach, bis Moiras Stiefel es mit einem kompromisslosen »Klack« bremste.
»Hier ist er nicht!«, brüllte sie den Soldaten zu, die sich noch im Rondell befanden. »Sucht in den Kammern!«
Sie ließ die geborstene Klappe zufallen und stieß einen Pfiff aus. Jola ließ augenblicklich von Indigo ab und kam zu ihr zurück. Moira legte die Hand auf den Kopf der Hündin, liebkoste das windzerzauste Fell. Doch dabei sah sie Summer an, schweigend, mit festem Blick, den Fuß immer noch auf der Klinge.
Summer kämpfte gegen die beginnende Lähmung in ihrer Schulter an. Das Gift der Schneefalter brannte in der Wunde und auf ihrem Gesicht. Und auch an ihren Sohlen. Müdigkeit schlang sich um ihre Knochen wie eine Schlange aus Blei. Das ist also das Letzte, was Beljén gespürt hat, schoss es ihr durch den Kopf. Sie biss die Zähne zusammen und kroch zu Indigo.
Er lag immer noch auf dem Rücken. Die Arme von sich gestreckt wie jemand, der den Himmel umarmen will, den Mund leicht geöffnet, schutzlos wie alle Bewusstlosen. Seine Lider flatterten, als würde er gegen einen Albtraum kämpfen. Bald würde er wieder zu sich kommen. Mühsam zog sie sich neben ihm auf die Knie. Sie musste alle Kraft zusammennehmen, um Indigos Kopf und seine Schultern anzuheben und auf ihre Knie zu betten. Sein Kopf fiel zur Seite und sie stützte ihn, schob eine Hand zwischen seine Schulterblätter und zog ihn an sich. Schwer lag sein Kopf an ihrer Schulter. Erst jetzt fiel die Trance der Entschlossenheit, die sie bisher wie eine schützende Rüstung umgeben hatte, von ihr ab. Angst zitterte in ihrer Brust und ließ ihr Herz stolpern. Das Ende . Ein letztes Mal holte sie tief Atem, trank mit den Augen, so viel sie konnte, und nahm Abschied von allem. Der höchste Turm der Zitadelle trieb in einem Nebelmeer, doch hier oben war klarer Himmel, und Summer hatte den Eindruck, nach den verblassenden Sternen greifen zu können. Über dem Nordland ging gerade die Sonne auf und legte einen rosa Glanz auf die Wolkenränder. Noch nie war ihr das Leben so kostbar erschienen.
Vorbei , dachte sie. Du gehst den Weg der Menschen, Summer .
Indigos Lippen waren blau vor Kälte. Er stöhnte wieder und blinzelte, regte sich in Summers Armen. »Der Tod und die Liebe sind Nachbarn. Doch der Abschied wohnt in beiden Häusern.« Sie wusste nicht, warum diese Textzeile aus Morts Theaterstück kurz durch ihre Gedanken geisterte, aber sie musste darüber lächeln. Eben hatte sie Indigo noch gehasst. Doch als er nun die Augen aufschlug und sie so ratlos ansah, als würde er sich nicht erinnern können, wich der Zorn von ihr. Die Vergangenheit verblasste, sogar Beljéns Gesicht, und sie nur war nur noch seine Zorya, deren Namen Tors Indigo vor so vielen Jahren gerufen hatte.
»Indigo!« Sanft strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Lamaya ist hier. Hab keine Angst.«
Und in dem Moment, in dem er sie erkannte, beugte sie sich mit einer
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