Ascheherz
musste sie nur noch für den Rest der Nacht einen neuen Unterschlupf finden. Vielleicht im obersten Stockwerk, wo sich die Wohnungen mit eigenem Bad befanden, die selten gemietet wurden und jetzt bereits leer standen. Das lernte man, wenn man ständig auf der Flucht war: Stets einen Ausweichplan zu haben. Und das Erste, was sie in jeder neuen Bleibe tat, war, sich Schlupfwinkel und Fluchtmöglichkeiten einzuprägen.
Hastig raffte sie das abgeschnittene Haar zusammen und stopfte das Strähnenbündel in ihre Tasche. In einer anderen Stadt würde ein Perückenmacher gutes Geld dafür bezahlen.
Als sie die Treppen zum obersten Stockwerk hinaufhetzte, war sie sicher, dass er ihr folgte. Und sie rannte umso schneller, bis sie endlich im achten Stock angekommen war und das Vorhängeschloss an einer der Türklinken ertastete. Das war das Zeichen, dass die Wohnung für dieses Jahr endgültig geräumt worden war und vor dem Frühjahr niemand die Räume betreten würde. Nun, niemand außer Summer. Sie wusste nicht viel, aber sie wusste, wie man einbrach.
Als könnte ich einem Traum davonlaufen , dachte sie müde und tastete sich an der Wand entlang bis zu der Nische, die zu einer
schmalen Abstellkammer führte. Zerbrochene Stühle lagen darin, staubiger Hausrat und ein Haufen Lumpen und alte Kleidung. Dinge, die den Toten gehört hatten oder die die Lebenden vergessen hatten. Inmitten des Gerümpels, halb versteckt neben einem Regal, befand sich ein kleines Fenster, das zum Badezimmer der daneben liegenden Wohnung gehörte. Der Rahmen war morsch und von Feuchtigkeit verzogen. Summer verbarrikadierte die Tür der Kammer von innen und kramte blind zwischen ein paar Möbeltrümmern herum, bis sie das passende Werkzeug fand, ein abgebrochenes Stuhlbein. Damit drückte sie das Fenster zur Wohnung ein. Morsches Holz knirschte und splitterte dann. Rasch zog sie sich hinauf, zwängte sich durch das Fenster und ließ sich in einen schimmelig riechenden Raum gleiten. Von innen drückte sie den schiefen Rahmen wieder an. Unter ihren Füßen: verkrustete, raue Fliesen, Steinbrocken, scharfkantiger Schutt. Für einen Augenblick fürchtete sie, dass das Bad von außen verschlossen sein könnte, doch die Tür gab nach. Summer atmete auf und trat in das Zimmer, das nach Verlassenheit und verstaubten Träumen roch. Natürlich machte sie kein Licht. Sie wusste auch im Dunkeln, auf welcher Seite des Zimmers der Balkon war. Schritt für Schritt tastete sie sich vor und öffnete die Holztür nur einen Spaltbreit. Betäubend frische Nachtluft strömte herein und machte sie schwindelig und müde. Nach einer Weile verschloss sie die Tür wieder und ging zur Wohnungstür, wo sie die Riegel vorschob. So würde auch ein Verwalter, der den Schlüssel hatte, nicht hereinkommen können. Anschließend verbarrikadierte sie noch das Bad mit einem Stuhl unter der Klinke. Erst als sie fertig war, ließ die Furcht von ihr ab. Im Augenblick war das hier der sicherste Ort, an dem sie sein konnte.
Die Matratze war kalt und nackt, und Summer legte das Stuhlbein
als Waffe neben sich, rollte sich erschöpft zusammen und starrte so lange auf die Balkontür, bis die blaue Stunde zwischen Nacht und Morgen durch die Ritzen der Holzläden zu schimmern begann.
staub und malachit
I n den guten Nächten umgab sie stets nur traumloses Nichtsein; in den schlimmen Nächten begegnete sie ihm . Doch offenbar war etwas Unerklärliches mit ihr geschehen, denn in dieser Nacht träumte sie!
Sie lag in einem Schwanenbett aus Elfenbein. Noch hatte sie die Augen geschlossen, aber unter ihren Fingern spürte sie die kühle, polierte Glätte. Seide streifte ihre Stirn und wehte im Wind. Verwundert blinzelte Summer und blickte in ein sonnendurchflutetes Zimmer, in dem der Staub tanzte. Im ersten Moment war sie sicher, erwacht zu sein, aber dann erkannte sie, dass sie immer noch träumte. Denn um sie herum, an den Wänden des Zimmers, entdeckte sie eine fließende Bewegung. Türkisfarbene, fingerlange Raupen mit goldenen und schwarzen Tupfen. Ihr Anblick war nicht verstörend, dafür waren die Raupen zu fremdartig - und zu schön. Sie würden Mort sicher gefallen. Summer musste lächeln und schloss die Augen wieder. Eine schwebende Weile lauschte sie ihrem eigenen Atem. Nur langsam wurde sie sich der unangenehmen Empfindungen bewusst. Vor Durst fühlte sich ihr Mund trocken an und die Zunge geschwollen. Ihre rechte Schläfe drückte gegen die Matratze, was ein brennendes Pochen an der
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