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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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dachte, seine eigene Haut zu retten.
    Sie legte die Lampe in Finns Hand und schloss behutsam seine Finger darum. »Es tut mir so leid«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich wünschte so sehr, ich würde dich lieben. Aber es wäre eine Lüge. Wie alles andere auch. Gleich kommt Hilfe. Und du wirst mich vergessen. Bitte vergiss mich!«

    Das Wohnviertel am Berghang Maymaras hätte auch »Stätte der Namenlosen« heißen können. In den schäbigen Hochhäusern, die im Schatten der Bergwand aufragten, hausten die Tagelöhner und Saisonarbeiter, die im Frühjahr auftauchten und im Herbst wieder verschwanden. Kleine, schalenartige Balkone aus einer reicheren Zeit klebten wie Muschelwuchs an den Mauern. Die Wohnungen waren billig und wurden stets im Voraus bezahlt. Niemand fragte nach Namen, und die Toten, die einsam in diesen Zimmern starben, fand man erst, wenn einer der Verwalter die Tür aufbrach, weil die Wochenmiete ausgeblieben war.
    An jedem anderen Tag hatte Summer ihr Wohnhaus mit dem unguten Gefühl betreten, sich aus der Sicherheit menschlicher Gesellschaft zu lösen und sich in der Einsamkeit ihrer Kammer den Träumen vom Blutmann schutzlos auszuliefern. Heute jedoch war ihre Wirklichkeit wie in einem Zerrspiegel auf den Kopf gestellt: Nun lauerte die Bedrohung draußen und Summer hetzte keuchend die sechs Stockwerke hoch, rannte in ihr Zimmer und schob beide Riegel vor. Zitternd und nach Luft schnappend stand sie dann in der Kammer, in der nicht viel mehr als eine durchgelegene Matratze Platz fand.
    Die Stille im Haus brüllte in ihren Ohren. Es dauerte eine Ewigkeit, bis es Summer in der Dunkelheit gelang, das Licht in der zerbrochenen Öllampe neben dem Bett zu entzünden. Hastig zerrte sie sich dann Gürtel und Tasche vom Leib und zog sich das verschmutzte Seidenkleid über den Kopf. Angewidert schleuderte sie es zu Boden und untersuchte ihren Körper auf Verletzungen. Sie hatte Abschürfungen an der Hüfte, an den Knien und Händen. Doch sie suchte reflexartig auch nach den Fesselrillen an ihren Handgelenken. Natürlich war nichts zu sehen.
    Zögernd trat sie zu dem kleinen Waschbecken neben dem
Bett. Ein altersblinder Spiegel reflektierte ein nebliges Bild. Ein schmales Gesicht mit einem ernsten Mund. Rauchbraune Augen. Lange, wirre Haare, die in diesem Licht rötlich wie Flammen schimmerten.
    »Zeit für ein neues Leben!«, flüsterte sie dem traurigen Mädchen im Spiegel zu. »Du schläfst ein paar Stunden. Und morgen tauchst du unter und siehst zu, dass du weiterkommst. Westwärts zum Bahnhof und dann mit einem der Güterzüge raus aus der Stadt. Nicht zum Hafen, du darfst der Frau mit dem Hund nicht begegnen. Und keinem vom Theater.« Es war, als würde eine klügere, ruhigere Summer neben ihr stehen und ihr Anweisungen geben: Den Schmutz vom Körper waschen. Die verkrustete Platzwunde an der Schläfe vorsichtig reinigen. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie noch besaß, anziehen - ein Hemd und eine braune Weste, wie die Arbeiter am Hafen sie trugen, dazu farblose, weite Stoffhosen. Und schließlich: Das kleine Klappmesser, das sie zum Öffnen von Muschelschalen verwendete, aus dem Beutel holen und damit das hüftlange Haar abschneiden.
    Sie redete sich ein, dass sie es nur tat, weil die Farbe und die Länge zu auffällig waren. Aber in Wirklichkeit wollte sie die Erinnerung an die Hand in ihrem Haar loswerden. Der Blutmann war ihr so nahe gekommen wie noch nie zuvor. Und schlimmer noch - nun hatte er ein Gesicht, graugrüne Augen, und er roch nach Leder, Branntwein und Hass. Etwas Fremdes hatte sie berührt und berührte sie immer noch. Erinnerungen? Ein vergangener Schrecken, den sie mühsam vergessen hatte? Sie schauderte und kämpfte gegen die Panik an.
    Strähne um Strähne fiel in das Waschbecken. Als sie das letzte Mal das Messer ansetzte und danach aufblickte, hatte sie sich in ein erwachseneres, ernsteres Mädchen mit kurzem Haar verwandelt,
dessen Spitzen noch nicht von der Sonne ausgebleicht waren und daher einen dunkleren, karneolfarbenen Ton hatten. Das Gesicht war plötzlich schärfer gezeichnet. Mit größeren Augen und einer deutlicheren Kinnlinie. Nichts Weiches, nichts Verspieltes spiegelte sich mehr in den Zügen wider. Schon jetzt fühlte sich jede Bewegung anders an, kantiger, direkter. Als wäre eine andere Person dabei, in ihre Haut zu schlüpfen. Das war der Verschwindetrick, den sie am besten beherrschte. Nur ihren Namen konnte sie nicht loslassen.
    Noch nicht.
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