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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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und ihren Richtern.
    »Ja, ich weiß, das rote Haar is hässlich. Sagt meine Mutter auch«, murmelte sie und zupfte sich das Kopftuch hastig wieder zurecht. Dabei nutzte sie die Kopfbewegung für einen Seitenblick. Keine Chance für eine schnelle Flucht. Die Kisten waren inzwischen verladen worden und boten keine Deckung mehr. Und überall Bewaffnete, die den beiden auf Zuruf zu Hilfe kommen würden, wenn sie weglief. Verdammt, sie saß fest! Den Platz im Zug hatte sie vermutlich schon verwirkt, jetzt hieß es nur noch, irgendwie aus dem Bahnhof zu kommen. Ihre überreizten Nerven gaukelten ihr den Geruch von Leder und Hass vor, der sie frösteln ließ. Er ist nicht hier, beruhigte sie sich, aber es nützte nichts.
    Mit einem Mal erstarrte sie. Aber es war nicht der Blutmann, wie sie im ersten Schreck befürchtete. Dieser Mann dort hatte kein dunkles Haar. Die Locken, die mit einem Stofffetzen im Nacken zusammengebunden waren, waren nass, und trotzdem konnte man erkennen, dass das Haar so blond wie das von Finn war. Anzej trug die Kleidung eines Tagelöhners, die er wohl in der Rumpelkammer gefunden hatte, und einen Beutel am Gürtel. Die Staubkruste war verschwunden. Was machte er ausgerechnet am Bahnhof? Aber dann formte sich im Bruchteil einer Sekunde ein verzweifelter Plan. Die einzige Chance, um einer Verhaftung zu entgehen: Sie musste die Aufmerksamkeit der Polizisten zu Anzej lotsen. Seine unbeholfene Art, seine Unwissenheit - all das würde sie misstrauisch machen und lange genug ablenken. Wenn es stimmte, was sie vermutete, war er ebenfalls auf der Flucht und würde die Polizei fürchten. Wenn sie Glück hatte, würde er sogar versuchen, vor ihnen wegzulaufen. Zeit genug für Summer, sich aus dem Staub zu machen. Die Aufwallung des schlechten
Gewissens unterdrückte sie. Dort, wo er gerade war, hatte er immerhin eine gute Chance, zum nächsten Ausgang zu entkommen. Jedenfalls eine bessere Chance als du ohne ihn , sagte die nüchterne Stimme der neun Leben.
    »Ich weiß nich, wovon ihr sonst redet«, wandte sie sich wieder den beiden Bewaffneten zu. »Schauspieler kenn ich nich - und ich reise auch gar nich allein. Ich warte auf mein Bruder.«
    Als würde sie jetzt erst nach ihm Ausschau halten, sah sie sich um und winkte dann über die Menge. »Anzej!«, rief sie. »Hier bin ich!«
    Er blieb ruckartig stehen und wandte sich ihr zu. Seltsamerweise schien er nicht erstaunt zu sein, ihre Stimme zu hören. Aber sobald er sie entdeckte, ließ ein Lächeln sein Gesicht erstrahlen, das in Summer das Schuldgefühl wieder zum Aufflackern brachte.
    Ohne die Staubkruste schien seine Haut zu leuchten und sein Gesicht … Einige Frauen vergaßen weiterzugehen und drehten sich nach ihm um. Gleich würde er die beiden Polizeileute entdecken und fliehen. Sie machte sich bereit, die Muskeln angespannt, ihr Puls ein singender Wirbel. Verstohlen drückte sie ihre Tasche an sich und schielte kurz zur Seite. Der Türwächter war dabei, das Geld von den letzten Mitreisenden zu kassieren. Das Geldzählen nahm ihn völlig in Anspruch. Die letzte Chance für sie. Sobald die beiden Bewaffneten für einen Moment wegblickten, musste sie unbemerkt die zwei Meter zum Ende des Triebwagens überbrücken - und dort auf die Gleise springen und unter der Kupplung hindurchtauchen. Wenn sie schnell war, würde es aussehen, als sei sie einfach von der Bildfläche verschwunden. Und vielleicht würde keiner darauf kommen, dass sie nur auf die andere Seite der Gleise entwischt war.
    »Summer!«, rief Anzej und steuerte direkt auf sie zu. Sie erschrak
darüber, dass er ihren Namen rief, aber in seiner Aussprache klang es fremdartig, eher wie »Samaa«.
    Jetzt war es zu spät, ihm noch ein warnendes Zeichen zu geben. Und zu allem Überfluss konzentrierte sich die Frau nun wieder auf sie. Jetzt half nur noch, weiter zu improvisieren.
    »Das da is mein Bruder«, erklärte sie hastig. Und fügte sicherheitshalber hinzu: »Er … hat im Kontorkeller gearbeitet.« Das erklärte seine gänzlich ungebräunte Haut, denn die Leute, die im Frühjahr in diesen Katakomben verschwanden, sahen bis zum Herbst kaum Sonne. Anzej sah die Polizisten, zögerte kurz - und steuerte trotzdem direkt auf sie zu. Verdammt, es ging alles schief! Dann war Anzej bei ihr, und ihr wurde leicht schwindelig. Die Härchen an ihrem Unterarm sträubten sich, als sie ihn in ihrer Nähe spürte. Ein schriller Pfiff durchschnitt die Luft. Die letzten Reisenden kletterten in den

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