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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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ebenfalls zu. Ihre Beine wurden zu Marionettengliedern, jedes eigenen Antriebs beraubt, gezogen nur von dem eisernen Ungetüm. Ihr Kopftuch flatterte davon.
    »Tall!«, brüllte Anzej und sie verstand auch ohne ihre eigenen Worte, dass es »Spring!« bedeutete. Seine Finger gruben sich in ihren Unterarm. Sie heulte vor Angst, aber trotzdem stieß sie sich mit aller Kraft ab, während der Ruck in ihrem Schultergelenk sie nach oben riss, über die surrenden Räder hinweg - direkt in Anzejs Arme. Dann fielen sie gemeinsam auf den Holzboden und prallten gegen ein Fass. Dort blieben sie liegen wie zwei Gestrandete, eng umschlungen, getragen vom mechanischen Puls des Zuges. Benommen sah Summer sich um. Es roch nach Fisch und Salzwasser. Sie lagen zwischen Fässern, in denen es bei jedem Ruckeln des Zuges schwappte.
    Sie rang nach Luft, jeder Atemzug schmerzte, als hätte sie Staub geatmet. Die Wahrnehmung spielte ihr einen Streich. Am Rand ihres Sichtfelds glaubte sie die Bewegung der Geisterraupen zu sehen. Sie spürte Sonne auf dem Gesicht und hörte ein
Flüstern an ihrem Ohr. Im Rhythmus der Radschläge und dem Gluckern formten sich in ihrem Kopf eine Melodie und Bruchteile von Strophen, die keinen Zusammenhang ergaben: … im Kartenhaus, kann keiner hinein … keiner hinaus …
    Es war ein fröhliches, schnelles Lied, das ihr vertraut schien, eine Erinnerung, die sie streifte und sofort wieder verschwand, als Anzej sie fester in die Arme nahm.
    Anzej lachte, dann ballte er die rechte Hand zur Faust, reckte sie in die Luft und stieß einen Triumphschrei aus, der in Summers Körper widerhallte. Alles in ihr ermahnte sie, sofort - SOFORT! - auf Abstand zu gehen, aber ihr Körper gehorchte nicht. Im Gegenteil, er tat etwas Unbegreifliches. Sie konnte gar nicht anders, als Anzejs Lachen zu erwidern. Es war verrückt und nicht zu erklären. Sie lag in den Armen eines Fremden, den sie verraten und der ihr trotzdem geholfen hatte. Und mit jeder Umdrehung der Räder entfernte sie sich schneller von ihrem Verfolger. Mit einem Mal war sie einfach nur glücklich: Darüber, ihm entkommen zu sein. Und glücklich darüber, dass Anzej sie gerettet hatte und bei ihr war.
    Sie lachten, bis sie nicht mehr konnten und ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Sie setzten sich auf, wischten sich die Gesichter mit Ärmeln und Lumpenfetzen ab und betrachteten die vorbeiziehende Landschaft, bis Anzej schließlich aufstand und die Tür ein Stück zuzog. Mit diesem diebischen Grinsen, das sie gerade erst kennenlernte, kehrte er zu Summer zurück und setzte sich direkt neben sie. Immer noch sträubten sich die Härchen an ihrem Arm wegen der ungewohnten Nähe, aber sie rückte nicht von ihm ab.
    »Danke«, sagte sie. »Das war … ich weiß nicht, wie ich dir danken soll. Ich hätte dich zurückgelassen, weißt du? Und deshalb ist es besser, du lässt die Finger von mir.«

    Auch wenn er die Worte nicht verstand, begriff er sehr wohl den Tonfall. Er hörte auf zu lächeln. »Ich bin keine Reisende, ich bin auf der Flucht«, fuhr Summer fort. »Und ich bin nicht wie du. Ich stehe für niemanden ein, wenn es sein muss, verrate ich sogar meine Freunde.«
    »Auf der Flucht«, wiederholte Anzej mit seinem weichen Akzent.
    »Du verstehst nicht«, beharrte Summer leise. »Es ist gefährlich, bei mir zu bleiben. Ich bringe Unglück!«
    Anzej wandte sich ihr zu und legte die Hände um ihr Gesicht. Die Geste war so selbstverständlich, als hätten sie bereits tausend Tage und Nächte gemeinsam auf den schaukelnden Holzplanken eines dahinratternden Zuges verbracht. Im Fahrtwind hatten sich einige Strähnen seines Haars aus dem Zopf gelöst und waren getrocknet. Sie waren tatsächlich blond wie Finns Haar, aber Anzej unterschied sich von dem Schauspieler wie die Nacht vom Tag. Du spielst nicht den Helden , dachte Summer. Deine Wut ist echt und direkt, du magst mich, aber du brauchst mich nicht, und du bist so furchtlos, als hättest du nichts zu verlieren.
    Anzej schenkte ihr ein neues, ernsteres Lächeln. Dann schloss er die Augen - und küsste sie zart und unendlich behutsam auf die Lippen.

Teil II
    der name des todes

eisenkuss
    W ie hart und endgültig ein Schnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft sein konnte, hatte sie schmerzhaft vor einhundertsechzehn Tagen erfahren. Es war ein Sturz in bodenloses Vergessen gewesen, von dem sie sich nie erholen würde. Dieser neue Schnitt zwischen dem Gestern und dem Jetzt war ebenso endgültig. Aber diesmal nahm

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