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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Waggon.
    »Lasst doch wenigstens mein Bruder in den Zug. Bitte!«, spielte sie ihre Rolle weiter. »Unsere Mutter liegt im Sterben.« Kummer schwang in ihrer zitternden Stimme mit.
    In diesem Moment lernte sie so einiges über den Fremden. Er mochte so ahnungslos sein, dass er keine Wasserhähne kannte, aber er wusste ganz genau, was sie hier spielte. Als würde er auf ihren Schmerz reagieren, legte er rasch den Arm um ihre Schultern und zog sie näher zu sich heran. Gleichzeitig schlossen sich die Finger seiner anderen Hand blitzartig um ihr Handgelenk. Summer erstarrte vor Überraschung. Der Griff war sanft, aber Anzejs Botschaft war unmissverständlich: Ich weiß, was du vorhast . Aber entweder wir beide oder keiner.
    »Was ist jetzt, Khadra?«, meinte der Polizist gönnerhaft. Und tatsächlich - Summer traute ihren Augen nicht - nickte die Frau. »Na gut, verschwindet«, knurrte sie und wandte sich ab. Ihr Begleiter
folgte ihr, als sie ihren Kontrollgang durch den Bahnhof fortsetzte. Es war wie Hexerei. Und als hätte derselbe Magier für Summer noch einen weiteren Trumpf aus dem Hut gezaubert, erkannte sie, dass sie plötzlich doch noch eine Chance auf einen Platz im Zug hatte. Sie wartete nur ein paar Sekunden, bis die beiden weit genug entfernt waren, dann schüttelte sie Anzejs Arm energisch ab. »Das reicht jetzt«, zischte sie ihm zu. »Tolle Vorstellung, danke. Und jetzt leb wohl.«
    Sie rannte zum Waggon und erwischte den Türwächter im letzten Moment, bevor er das Trittbrett hochziehen und die Waggontür schließen konnte. Atemlos hielt sie ihm Geld hin.
    »Bitte!«, sagte sie aus vollem Herzen.
    Stirnrunzelnd betrachtete er die Scheine. »Das reicht nicht für zwei Plätze«, meinte er dann mit einem Blick in Richtung Anzej.
    »Ich brauch doch auch nur einen Platz. Mein … Bruder bleibt hier. Er hat sich nur verabschiedet! Bitte, ich muss …«
    Ein Trillerpfeifenkonzert setzte entlang des Zuges ein, das Zeichen zum Aufbruch. Summer fasste nach dem Griff neben der Tür, sprang aufs Trittbrett und zog sich hoch. »Kein Platz mehr frei für Leute, die Ärger mit der Polizei haben«, knurrte der Mann und gab ihr mit dem Fuß einen Stoß gegen die Brust. Sie konnte nicht einmal empört aufschreien. Der Tritt nahm ihr alle Luft, ihre Finger rutschten von der Eisenhalterung ab - und sie fiel rücklings … in zwei Arme, die sie sicher auffingen. Nasses Haar streifte ihre Wange. Mit Schwung zog Anzej sie wieder in eine stehende Position und schnellte an ihr vorbei auf den Zugwächter zu. »Milay!«, schrie er den Mann an. Es hörte sich an wie eine wüste Beschimpfung. Summer zuckte zusammen. Mühsam nach Luft ringend, konnte sie nur noch entsetzt beobachten, wie der Zugwächter sich erschrocken in Sicherheit brachte, während Anzej
auf das Trittbrett des Zuges sprang und mit geballten Fäusten auf ihn losging. Köpfe flogen herum, und mit einem Mal standen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Summer wollte Anzej zurufen, dass er aufhören solle, doch sie brachte kein Wort heraus. Die Luft schien zu flackern, ihr Schlüsselbein brannte noch von dem Tritt. Aber da war noch etwas: das kribbelnde Gefühl, beobachtet zu werden. Im Meer der Gesichter konnte sie nichts entdecken, aber dennoch nahm ihr die Panik den Atem.
    Leute lehnten sich aus den Zugfenstern und riefen nach den Polizisten, und Anzej fluchte in seiner fremden Sprache. Der Türwächter kreischte wie am Spieß, bis ein Schlag ihn verstummen ließ. »He!«, brüllte ein Polizist. Doch dann ging jedes weitere Wort im Zischen der Lok unter.
    Summer stolperte zur Seite.
    Und als ihr Kopf herumfuhr, erhaschte sie einen Blick auf einen Mann mit dunkelbraunem Haar. Sein Gesicht sah sie nicht, er schaute in die andere Richtung, und zu viele Leute verstellten ihr den Blick auf ihn. Aber den Verband um seinen linken Arm erkannte sie mit einer Deutlichkeit, die alles andere verblassen ließ. Und auch den frischen Blutfleck auf dem Stoff. Er sucht mich! Gleich würde er den Kopf wenden und sie entdecken.
    Ein Fauchen und Rauschen wallte auf, Ventile schlugen, eine Wolke von Wasserdampf legte sich um sie. Summer dachte keinen Augenblick länger nach. Wie ein gejagtes Tier, das instinktiv jede Deckung nutzt, schnellte sie zum Ende des Triebwagens und sprang auf die Gleise. Räder knirschten bereits auf Eisen, während sie unter der Kupplung hindurchschlüpfte und gerade noch rechtzeitig, bevor die Lok losschnaufte, auf die andere Seite kam, wo sie sich keuchend

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