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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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auf den Bahnsteig hochzog. Dann rannte sie - mit der Lok um die Wette, sie überholend - zum Ende der
Halle, sprang vom Bahnsteig und rannte auf Kies und vertrockneter Erde weiter, ohne sich umzusehen. Als sie ins Freie stürzte, riss ein Windstoß ihr fast das Kopftuch herunter. Sie wagte nicht, sich umzusehen. Hinter ihr bremste die Lok noch einmal kreischend ab, vielleicht hatte die Polizei den Befehl dazu gegeben. Summer biss die Zähne zusammen, verdoppelte ihre Anstrengung und erreichte endlich das Strauchwerk neben den Gleisen, das ihr wenigstens Sichtschutz geben würde. Mit einem Sprung brachte sie sich hinter einem Busch in Sicherheit und blickte sich gehetzt um. Durch die Zweige konnte sie keinen Verfolger entdecken. Noch nicht. Hinter ihr: Lagerschuppen. Vielleicht konnte sie sich dort verbergen? Oder war es besser, das Risiko auf sich zu nehmen und einfach weiterzulaufen? Sie musste aus der Stadt, wenn es sein musste, zu Fuß.
    Rumpeln und Surren von Eisen schwoll an. Ein neuer Pfiff, dann brach die Lok fauchend aus der Halle und nahm Fahrt auf. Könnte ich doch nur aufspringen , dachte sie verzweifelt. Aber die Güter waren wertvoll, und deshalb saß in jedem Waggon ein Aufpasser mit einer Waffe. Außerdem fehlte ihr der Mut für einen so gefährlichen Sprung in der Nähe der Räder. Noch jetzt sträubten sich ihr vor Entsetzen die Nackenhaare, wenn sie daran dachte, was sie eben gewagt hatte.
    Der Zug rollte heran, ein fauchendes, grimmiges Eisengesicht, umwallt von Rauchlocken, die über seinen Rücken geweht wurden. Das Stampfen der Maschinen vibrierte durch Summers Knie und die Handflächen, die sich in den kargen, trockenen Boden drückten. Sie duckte sich noch tiefer hinter den Strauch, als der Koloss an ihr vorbeizog. Noch war er nicht zu schnell, da die Strecke eine leichte Steigung aufwies. Ein Fallwind drückte den Rauch nach unten, der Büsche und Gleise einhüllte. Für einige
Sekunden roch es nach Herbstnebel und Regen, bis der Dampf verwehte und den Blick wieder freigab. Eine Bewegung links von ihr schreckte Summer auf. Kaum zwanzig Schritte entfernt von ihr, neben den Gleisen, lag eine Gestalt, die sich krümmte und wand. Ein kräftiger Mann mit einer blauen Weste, der sich den Kopf hielt, als hätte er einen Schlag erhalten. Er verzog das Gesicht vor Schmerz und bemühte sich trotzdem, sofort wieder auf die Beine zu kommen. Noch hatte er Summer nicht entdeckt, er war vollauf damit beschäftigt, seine Orientierung wiederzufinden. Summer kroch auf allen vieren zurück, während sie entsetzt zusah, wie der Mann schwankend und ganz offensichtlich fluchend vor Wut einen Schlagstock aufhob, der nicht weit von ihm auf dem Boden lag. Der letzte Triebwagen zog an Summer vorbei und ließ den Waggonwächter unwiederbringlich zurück. Wohin jetzt? Wenn er mich entdeckt …
    Ein Pfiff, der das Stampfen der Bahn übertönte, riss sie aus ihrer Erstarrung. Sie sprang auf die Beine, fuhr herum - und entdeckte Anzej. Er kauerte in der offenen Tür des letzten Waggons. »Summer«, rief er. Seine Lumpen flatterten, als er sich viel zu weit aus dem Waggon lehnte und ihr die Hand entgegenstreckte. Seltsamerweise war sie einen Moment lang einfach nur froh und erleichtert, dass Anzej nicht verhaftet worden war.
    Bei einem kurzen Blick über die Schulter konnte sie erkennen, wie der Waggonwächter losrannte und dabei den Stock schwenkte. Er brüllte aus voller Kehle.
    Keine Zeit mehr für Verblüffung, Gedanken und Zweifel.
    »Taljai!«, rief Anzej, während der Waggon ihn unaufhaltsam in die Ferne trug.
    Summer sprintete los und rannte, wie sie noch nie im Leben gerannt war. Ihr Atem brannte in ihrer Lunge, sie stolperte und
verletzte sich die Füße an scharfkantigen Steinen, aber sie ließ nicht zu, dass der Waggon ihr entglitt. Meter für Meter holte sie zum Zug auf. Viel Zeit hatte sie nicht mehr. Sobald die Lok die Kuppe erreicht hätte, würde der Zug richtig beschleunigen. Anzej ging noch weiter in die Knie und streckte seine Hand zu ihr hin, schwebend hing sie schräg über ihr und Summer hatte den wahnwitzigen Gedanken, dass er sie wegziehen würde in dem Moment, in dem sie nach ihr griff. Als hätte Maymaras Windgott Erbarmen mit den Fliehenden, gab ihr ein Windstoß im Rücken Antrieb und schob sie den letzten Zentimeter zu Anzejs Hand. Er zog sie nicht weg, im Gegenteil, er packte ihr Handgelenk so fest, dass es schmerzte. Dafür wird man uns beide erschießen, dachte sie noch, dann packte sie

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