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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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sie verwundert zur Kenntnis, wie einfach es auch sein konnte.
    Seit Anzej sie geküsst hatte, fühlte sie sich, als würde sie durch einen warmen Nebel laufen. Der erste Schock war gewesen, dass Anzejs Kuss sie nicht zurückschrecken ließ. Fieberhaft hatte sie nach der Bedrohung gesucht, der Warnung, die sie erschauern ließ - das, was sie auch bei Finn empfunden hatte. Aber bei Anzej fand sie nichts davon wieder. Und als sie aus diesem Kuss auftauchte und Anzejs Lächeln sah, war alles neu. Dieses Mädchen, die sich von einem Fremden küssen ließ, kannte sie nicht mehr.
    Sie fuhren nicht bis nach Tenar, sondern stahlen so viele Fische, wie sie mitnehmen konnten, aus den Fässern und sprangen kurz vor einer Kleinstadt im Niemandsland ab. Nieselregen empfing sie. Hier, nur einen halben Tag Zugfahrt von Maymaras Wärme entfernt, war kein sanfter, verspielter Herbst zu Hause, sondern
einer, der bereits mit groben Händen die Blätter von den Bäumen rupfte und alles in fahle Farben hüllte.
    Sie hatten Glück: Bei den Fischen handelte es sich um seltene Hornbrassen, deren Lebern für Liebeszauber verwendet wurden. Das Pulver, das daraus gewonnen wurde, kostete ein kleines Vermögen. Das Diebesgut war ein letzter Gruß aus Maymara, den Summer in der Vorstadt sofort zu Geld machte. Sie kaufte neue, wärmere Kleidung für beide. Anzej wunderte sich über die Schuhe und den schwarzen Hut, aber er vertraute sich ihr ohne zu fragen an. Im Schutz eines Hinterhofs zogen sie sich um, warfen die Lumpen aus Maymara weg und reisten sofort weiter - in stummer Übereinkunft, im Gleichtakt ihrer Schritte, wie Leute, die sich auf einen langen Weg begeben und beschlossen haben, ihn gemeinsam zu gehen.

    Dieser Weg führte sie von der Eisenbahnlinie weg, nicht in die Berge, sondern nordwärts in eine schmucklose, verregnete Gegend, von der Summer annahm, sie würde sich am besten dazu eignen, ihre Spur zu verwischen. Die Regenwolken hingen über dem Niemandsland zwischen zwei verschlafenen Städtchen - zu weit fort von den Bergen und zu weit vom Meer entfernt, um viele Reisende anzulocken. Erst bei Anbruch der Nacht, als sie sich schon damit abgefunden hatten, in irgendeiner Scheune übernachten zu müssen, kamen sie nach endlos langem Fußmarsch völlig durchnässt in einem Dorf an. Die Leute waren ähnlich kühl wie das Wetter, aber keiner stellte Fragen, was ein städtisch gekleidetes Paar in dieser Gegend zu suchen hatte. Ein Gasthaus gab es nicht. Stattdessen deutete ein Mann, dessen mürrisches
Gesicht an eine Kartoffel erinnerte, auf ein Häuschen am Rand des Dorfes.
    Es entpuppte sich als Bäckerei. Die Besitzerin studierte misstrauisch das Geld, das Summer ihr gab, und führte sie und Anzej dann eine schmale Stiege hinauf. Immerhin lag die Kammer direkt über den Backräumen und war warm, der Duft von Brot lag in der Luft. Staub rieselte von der Decke, als die durchgebogenen Holzbohlen unter ihren Schritten zu schwingen begannen. Ein riesiges Bett füllte den Raum beinahe von Wand zu Wand aus. Die Überdecke aus zusammengenähten Lederflicken erinnerte Summer an die Uniformweste der bewaffneten Frau, die ihr in Maymara zu Hilfe gekommen war. Unbehaglich zog sie die Schultern hoch.
    »Da, Laken zum Abtrocknen und eine Kerze«, brummte die Bäckerin und drückte Summer das Bündel in die Hand. »Das Licht ist kaputt. Aber passt mit dem Feuer auf. Und tropft mir die Lederdecke nicht nass!«
    Als sie die Tür zuschlug, standen sie im Dunkeln. Summer drückte die fadenscheinigen Laken an sich und trat zum hellen Rechteck des Fensters. Die Straße war leer, und dennoch kämpfte Summer gegen die Vorstellung an, dass er ihr gefolgt war und längst wusste, wo sie sich befand. Dass die Wände für ihn durchsichtig waren und er sie von draußen betrachtete.
    »Unsinn. Hier ist es erst einmal sicher«, sagte sie laut zu sich selbst. Zumindest heute , setzte sie in Gedanken hinzu.
    Lautlos trat Anzej an sie heran. Und auch diesmal zuckte sie nicht vor ihm zurück. Sein Atem streifte ihre linke Wange, während sie gemeinsam die sturmgepeitschten Bäume an der schlammigen Straße betrachteten. Ein zu langes Schweigen mit Finn oder mit anderen Menschen war stets unangenehm geworden.
Meistens war es der Anfang der Fragen gewesen. Aber Anzej hatte den ganzen Tag mit ihr geschwiegen und würde sie auch jetzt nicht fragen.
    Nach einer Weile streckte er die Hand aus und deutete auf einen Haufen grob behauener Steine neben der Straße, die

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