Ascheherz
Summer kaum noch, dass sie Anzejs Worte nicht verstand. Vor ihren Augen erstand seine Geschichte. » Ich wurde über das Meer nach Maymara gebracht. Vom Hafen aus musste ich zu Fuß gehen«, erzählten seine Hände und die fremden Worte . »Ich und viele andere. Wir wanderten in die Berge - einer an den anderen gekettet, damit wir nicht flohen. Und dort oben angekommen, mussten wir arbeiten. Sie bewachten uns gut, manche stürzten oder wurden von Steinen erschlagen, andere starben an Krankheiten. Es kamen neue. Und wieder neue.«
Er schluckte und hielt inne. Summer widerstand dem Impuls, an ihn heranzurücken und ihn zu berühren. Mit einem Mal erschien er ihr wie brüchiges Glas: äußerlich unversehrt, aber im Licht betrachtet mit feinen Rissen an so vielen Stellen.
Wie ähnlich wir uns darin sind , dachte sie. Es machte sie trauriger, als sie sich eingestehen wollte.
Und dennoch war da immer noch ihre wachsame Stimme. Summer kreuzte die Handgelenke und tat so, als würde sie sich von Fesseln befreien. »Du … hast gar keine Fesselspuren.«
Anzej zeigte ein bitteres Lächeln. » Wer gefesselt ist, stürzt zu leicht«, war seine Antwort . Sie wusste nicht, ob sie diese Worte aus seinem Mund verstanden hatte oder ob sie nur die Zeichnung auf Anhieb begriff. » Und um uns zu strafen, hatten sie andere Möglichkeiten.«
Er hielt inne. Seine rechte Hand, die über dem Leder schwebte, zitterte leicht, dann wurde sie zu einer Faust. Summer zuckte zusammen und musste wegschauen.
Langsam, als müsste er seinen Mut zusammennehmen, drehte er sich von Summer weg und wandte ihr den Rücken zu. Dann holte er Luft und ließ das Laken über die Schultern ein Stück in Richtung Hüfte gleiten. Summer schlug die Hand vor den Mund. Auch wenn er ihr nichts erzählt hätte, nun hätte sie seine Geschichte erraten können, zumindest den schlimmsten Teil. Über seinen Rücken zog sich ein bizarres Muster, gebogene Zweige mit Blüten aus vernarbter Haut: verheilte Wunden. Die Striemen stammten von einer dünnen Peitsche. Mit einem Schaudern erinnerte sich Summer daran, dass sie diese Narben bereits gesehen hatte. Doch unter der Staubkruste hatte sie sie am Morgen ihrer ersten Begegnung mit Anzej für die Falten eines Kleidungsstücks gehalten.
»Sie werden dich suchen, nicht wahr? Und wenn sie dich finden…«
»Dann töten sie mich.« Diese Geste war unmissverständlich. Summer senkte den Kopf. Die Scham schmeckte bitter - Scham darüber, dass sie ihn heute Morgen noch ohne zu zögern den Polizisten ausgeliefert hätte, um sich selbst zu retten.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie ihm zu. »Aber sie werden dich nicht bekommen. Niemand wird uns finden.«
Uns. Sie zuckte vor diesem Wort zusammen. Es klang wie ein Versprechen, ein Pakt zwischen zwei Menschen, die nichts zu verlieren und ein gemeinsames Ziel hatten: Flucht.
Die Kerzenflamme flackerte. Anzej schwieg, aber er wandte sich Summer zu, ohne das Laken wieder über die Schultern zu ziehen. Seine Brust trug keine Narben. Als hätte er Summer verstanden, nickte er.
»Nicht mehr schlimm«, bedeutete er ihr nach einer Weile mit einer nachlässigen Geste. Und dann überraschte er sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Mala tai!«, forderte er sie auf und deutete auf ihr Laken. » Jetzt ziehst du dich aus!«
Summer klappte die Kinnlade nach unten. Als Anzej ihr verdutztes Gesicht sah, brach er in Gelächter aus.
»Träum weiter!«, sagte sie unwillig und zog ihr Laken enger um die Schultern. »Warum bist du überhaupt in die Mine gekommen? Wurdest du verschleppt? Hat deine Familie dich wegen Schulden verkauft? Oder bist du an einen Menschenhändler geraten?«
Diesmal hatte er sie genau verstanden, das sah sie ihm an. Er seufzte, dann zeichnete er ein paar Figuren. Eine Frau, zwei Männer. Und einige Pfeile. Summer brauchte einige Sekunden, bis sie verstand. »Du … hast die Frau eines anderen verführt?«
»Eine?« , fragte Anzej zurück. Mit ernstem Gesicht fächerte er alle zehn Finger vor ihr auf.
Für einen Moment war sie sprachlos. »Du nimmst mich auf den Arm! Und selbst wenn es stimmen würde - dafür wird man nicht in eine Mine geschickt. Sag mir gefälligst die Wahrheit!«
Anzej zuckte mit den Schultern und grinste. Dann gab er sich geschlagen. Er tat so, als schnappte er sich etwas, und steckte es ein.
Ein Dieb. Auf eine unbehagliche Art war Summer enttäuscht. Aber andererseits: Was hatte sie erwartet? Die tragische Geschichte eines Unschuldigen, der zu
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