Ascheherz
Unrecht bestraft worden war?
»Und was hast du gestohlen? Geld? Schmuck? Oder hast du … jemanden ausgeraubt?«
Das spöttische Funkeln verschwand aus seinen Augen. Etwas Seltsames geschah. Die eben noch fröhliche Stimmung verflog auf der Stelle. Die Dunkelheit schien sich um Anzej zu verdichten, als würde ein Schatten auf ihn fallen. Er wandte den Kopf und starrte zum Fenster, plötzlich hundert Meilen weit weg von ihr, umgeben von einer Mauer, die keinen Blick in sein Inneres zuließ. Selbst wenn Summer vorgehabt hätte, ihn zu berühren - nun hätte sie es nicht gewagt. Sein Blick hatte plötzlich eine Härte, die alles Weiche aus seiner Miene vertrieb. Und das Geheimnis, das Anzej ihr nicht verraten würde, lag zwischen ihnen wie ein schlafender Hund, den man besser nicht weckte. Sie bekam eine Ahnung davon, wie Finn sich gefühlt haben musste, wenn er versuchte, ihre Geheimnisse zu ergründen. Jeder hat seine Geschichte , dachte sie. Und vielleicht ist seine ähnlich beängstigend wie meine?
Sie erinnerte sich an das Messer an ihrer Kehle und fröstelte. Plötzlich sehnte sie sich nach Anzejs Lächeln, nach der Unbeschwertheit, die sie eben noch verbunden hatte.
»Na gut, dann bist du also ein Dieb«, sagte sie.
Anzejs Lächeln flammte wieder auf. Er schnalzte verächtlich mit der Zunge und umriss mit zwei flinken Strichen die Kontur eines Fisches auf dem Leder. Dann deutete er auf Summer.
»Du doch auch!«, sagte die Geste. »Summer ist ein Dieb«, fügte er klar und deutlich hinzu - wenn auch mit diesem Akzent, den sie nicht einordnen konnte.
Sie war so überrumpelt, dass sie sich nicht wehrte, als er sie sacht an sich zog. Vergeblich suchte sie auch diesmal nach der Furcht vor diesem dunklen, lange vergangenen Kuss. Doch das hier war nur Anzej. Ein Teil dieses neuen »Wir«, das ihr bereits vertraut war. Jetzt konnte sie sich ein Lächeln doch nicht verkneifen. Nun, zumindest etwas hatte er über sich verraten: Er war überhaupt nicht so hilflos, wie sie sich einredete. Eine Lügnerin und ein Dieb, dachte sie . Beide auf der Flucht vor etwas Unaussprechlichem.
»Du lernst wirklich erstaunlich schnell«, sagte sie.
Behutsam schlang sie die Arme um Anzejs Hals, darauf bedacht, seine Narben nicht zu berühren. Diesmal war sie es, die ihn küsste. Vielleicht ist es richtig so - nur wir beide und unsere Geheimnisse. Noch im Kuss musste sie lächeln.
Dieses Mädchen, das einen Fremden küsste, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, kannte sie immer noch nicht. Aber diesen Körper, der sich dabei an etwas anderes zu erinnern schien - an lang vergangene Liebesnächte und Leidenschaft, an die ihr Kopf keine Erinnerungen hatte, kannte sie noch viel weniger. Nur etwas irritierte sie noch mehr: Wie ein ungebetener Gast trieb eine Melodie durch ihre Gedanken. Sie hatte sie schon einmal erahnt, doch jetzt erst hörte sie sie deutlich, und mit ihr Worte, die sich zur ersten Strophe eines Liedes formten. Summers
Herz schlug schneller, doch dann zog Anzej sie dichter an sich, und auch dieser Schatten verschwand.
In dieser Nacht blieb er ihr fern, dafür sah sie Mort weinen. In den Trümmern seines Theaters wanderte er umher wie ein Geist, halb durchsichtig, ohne Hoffnung und Zukunft. Es schnitt ihr ins Herz, den alten Direktor so verzweifelt zu sehen. Es ist meine Schuld! , dachte sie niedergeschlagen. Charisse und Finn versuchten ihn zu trösten, und als Summer zu ihnen trat, sahen sie durch sie hindurch, ohne sie wahrzunehmen. Nur Ana, die eine Maske aus Metall trug, die ihr ganzes Gesicht verdeckte, kam auf sie zu, umarmte sie und tanzte mit ihr zusammen durch den Rauch, über die verkohlte Bühne, die unter ihren Schritten zu Asche zerfiel.
»Tanze, Summer«, raunte Ana ihr zu. »Du hast Lady Tod eingeladen. Jetzt wartet sie darauf, dich in die Arme zu schließen.« Summer wollte aufschreien, aber Ana wirbelte sie unbarmherzig herum. Asche stob in großen Flocken auf und wurde zu Schnee, sobald sie Summers Haut berührte. Ihre Füße waren wie Eis, und die Kälte lähmte sie bei jedem Schritt mehr. Währenddessen tanzte Ana mit ihr weiter wie mit einer hölzernen Puppe - und sang mit einer Stimme, die trotz der strengen Eisenmaske klar und fröhlich klang:
Ich und du im Kartenhaus,
kann keiner hinein, kann keiner hinaus,
hier lachen wir beide im Auge der Nacht,
im Bett, das die Herzdame uns gemacht.
Die Ewigkeit schmeckt nach Lack und Papier,
doch du und ich, wir lieben uns hier.
Ein Niesen
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