Ascheherz
ihre Freunde im Stich lassen.«
Siedend heiß schoss Summer das Blut in die Wangen. Der Hieb hatte gesessen.
»Im Übrigen ist es mir völlig egal, warum du in Maymara weggelaufen bist«, fuhr die Frau seelenruhig fort. »Ich sagte dir ja bei unserer Begegnung, dass ich nicht die Stadtpolizei bin. Wenn du nichts verbrochen hattest, gut. Wenn doch, Glück gehabt, dass du entkommen bist. Nicht meine Angelegenheit.«
Summer starrte sie überrascht an. Und stellte fest, dass ihr plötzlich leichter ums Herz wurde.
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Die Wunde an der Schläfe ist wirklich erstaunlich gut verheilt«, bemerkte sie verwundert. »Seltsam, nicht einmal eine Narbe ist zurückgeblieben.« Ihr scharfer Blick war unangenehm, wie eine Berührung auf Summers Stirn. Und ohne dass sie es wollte, kam wieder das Bild von Finn hoch. Finn, der wie eine Marionette ohne Fäden bewusstlos an der Hausmauer lehnte. Und Mort, der vielleicht nicht mehr lebte.
»Was ist aus dem Theater geworden? Aus den Schauspielern? Geht es Finn gut?« Die Fragen rutschten ihr heraus, ohne dass sie es verhindern konnte. Die Beraterin runzelte die Stirn, doch Summer hätte auch so gewusst, wie unpassend sie angesichts ihres Verhaltens wirken mussten.
»Keine Ahnung, Mädchen. Ich war, wie du dich vielleicht erinnerst, auf den Weg zum Hafen. Ich kann dir nur sagen, dass dein Freund mehr als enttäuscht von dir war, als er wieder zu sich kam. Kann ich ihm nicht verübeln.«
Sie wusste wirklich, wie man den wunden Punkt traf. Doch die Nachricht, dass Finn wirklich nicht schlimm verletzt gewesen war, hatte trotzdem etwas Tröstliches.
Der Hund starrte sie immer noch lauernd an. Und auch seine Herrin musterte Summer, als wollte sie abwägen, ob sie sie nicht doch lieber den Haien vorwerfen sollte.
»Ich weiß nicht, wer du wirklich bist, aber ich werde dich im Auge behalten«, meinte sie nach einer Weile. »Erlaube dir nur einen Fehler oder die kleinste Feigheit und Jola wird sich freuen, ihre Fänge an deiner Gurgel wetzen zu dürfen.«
Es war keine leere Drohung und Summer wusste, dass jede
Rechtfertigung fehl am Platz gewesen wäre. Die Schauspielerin hätte klein beigegeben, aber die Frau im weißen Kleid schien der Meinung zu sein, dass sie und diese Frau auf Augenhöhe waren. Sie hielt dem Blick aus seidengrauen Augen stand und hob das Kinn.
»Warum hast du mich überhaupt mitgenommen, wenn du mir nicht traust?«, fragte sie. »Ich könnte ja tatsächlich ein Spion der Raubfürstin sein. Oder eine Verräterin.«
Bist du verrückt? , schalt sie sich. Du verspielst noch deinen Platz auf dem Boot.
Die Frau bekam noch schmalere Augen und verschränkte die Arme. Und dann überraschte sie sie ein weiteres Mal.
»Im Krieg sind Verräter manchmal nicht die schlechteste Wahl. Siege werden nicht wie auf dem Schachbrett von schwarzen und weißen Figuren errungen. Schlachten werden mit List geschlagen, mit Entscheidungen, die immer wieder neu getroffen werden. Menschen sind nun mal Menschen, alles andere wäre blinder Optimismus. Und ein guter Verräter kann wertvoller sein als ein vor Ehrgefühl geblendeter Kämpfer.«
Das Bild von Anzej huschte durch Summers Gedanken und versetzte ihr einen jähen Stich. »Verräter verdienen kein Verständnis«, sagte sie scharf. »Und wertvoll sind sie nie.«
Zum ersten Mal blitzte echtes Interesse im Blick der Frau auf.
Sie beugte sich vor. »Und hier hast du die Antwort auf die Frage, warum ich dich mitgenommen habe. Möglich, dass du genau das bist, wofür ich dich nach unserer ersten Begegnung halte, eine talentierte Verräterin, feige und doppelgesichtig. Aber einen Menschen nur nach seiner ersten Tat zu beurteilen, wäre ziemlich dumm. Viel wichtiger ist seine letzte. Sie zeigt, wer man wirklich ist.«
Summer musste zugeben, dass die Beraterin sie nicht nur einschüchterte, sondern auch faszinierte. Ihr Stolz und ihre Worte hatten die Klarheit einer polierten Messerklinge.
»Wären die Menschen dann nicht doch in Schwarz und Weiß zu unterteilen?«, wandte sie vorsichtig ein. »Vielleicht stimmt es manchmal. Aber was sagt die letzte Tat schon aus? Wenn man den Tod vor Augen und nichts mehr zu verlieren hat, kann jeder mutig sein.«
Und du selbst, Summer? Wie mutig warst du, als du Todesangst hattest?
»Aber die meisten sind es nicht«, sagte die Frau leise und so eindringlich, dass Summer ein Schauer über den Rücken lief. Sie fühlte sich ertappt und auf eine unangenehme Weise beschämt.
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