Ascheherz
dass sie auf die Füße schnellte. Anzej schlief weiter. Sie spähte über den Rand des Krähennests. Und sah weit weg am Horizont - das Nordland! Die Küste war ein weißer Streifen im Mondlicht. Und zwischen Horizont und Schiff ankerte ein längliches Boot. Und ein kleineres Boot hielt gerade auf das Schiff zu.
Summer warf einen letzten Blick auf Anzej, dann schnappte sie sich die Matrosenjacke und kletterte nach draußen.
Der Wind drehte und trug die Geräusche nicht länger dem Krähennest zu. Doch unten an Deck angekommen, hörte sie Stimmen. Einige Matrosen machten sich an Leinen zu schaffen und in den Kajüten auf dem Achterdeck brannte Licht. Ein Matrose hielt eine Laterne über eine Seilleiter, die ins Wasser führte. Summer glitt hinter eine Truhe, duckte sich und schob ihre zitternden Hände in die Jackentaschen. Sie stutzte, als das Feuerzeug in ihre
Finger glitt. Jetzt merkte sie auch, dass die Jacke zu groß war. In der Hast hatte sie danebengegriffen und Anzejs Matrosenjacke angezogen. Und in der linken Tasche …
Metall und Papier? Sie schloss die Hand darum, zog sie vorsichtig heraus - und war fassungslos. Woher hatte Anzej so viel Geld?
»Einholen!«, befahl ein Matrose.
Hastig stopfte Summer die Silbermünzen und Scheine wieder in die Tasche und versuchte, sich ein Bild von dem Geschehen zu machen. Das Schiff lag vor Anker - und offenbar booteten ein paar Leute in das Motorboot um, das in Sichtweite wartete. Die Offiziere? Farrin hatte erzählt, dass er und die Berater nicht zum Kreidehafen fuhren. Das war ihre Chance! Sie musste mit Farrin sprechen und sich ihnen anschließen. Sie musste …
Ruderschläge erklangen und der Matrose holte die Seilleiter ein. Verdammt! Es war zu spät. Der letzte Mann hatte das Schiff eben verlassen. Summer brach der Schweiß aus. Einen Moment hatte sie den wirren Gedanken, den Matrosen zu überwältigen und die Leiter selbst wieder herunterzulassen, aber das wäre natürlich das Dümmste, was sie tun konnte. Sie duckte sich und huschte zur Reling. Unten erkannte sie zwei Leute in einem größeren Ruderboot. Pantherhaar glänzte im Licht einer Laterne. Summer leckte sich über die trockenen Lippen. Am liebsten hätte sie gebrüllt, um Farrin zur Umkehr zu bewegen, aber sie wusste, dass sie nicht nach ihm rufen durfte. Vielleicht weckte sie damit Anzej. Auf jeden Fall aber würden die Matrosen sie dann entdecken. Und für die Offiziere gab es ganz sicher keinen Grund, nur wegen ihr umzukehren. Aber ich muss runter vom Schiff!
Mit jedem Meter, den sich das Ruderboot entfernte, schwand auch die letzte Hoffnung, dem Gefängnis zu entfliehen.
Und als sie auf die glänzende Haut des Wassers blickte, wurde ihr mit einem Schaudern klar, dass es nur eine Möglichkeit gab.
Seltsamerweise war da kein Gefühl der Panik. Vielleicht, weil die Frau im weißen Kleid sicher war, im Wasser nicht zu sterben. Und mit der Schärfe von gesplittertem Glas erkannte Summer, dass das Einzige, was noch zählte, das Nordland und die Entscheidung war, nie wieder die Augen vor einer Wahrheit zu verschließen.
Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, dass die Matrosen ganz mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, dann nahm sie Anlauf - und sprang.
Der Fall schien eine Ewigkeit zu dauern. Ihr Zwerchfell kribbelte und in dem dunklen Spiegel des Wassers erkannte sie ihr verzerrtes Bild, das mit einem Mal zersplitterte. Die Nässe empfing sie mit einem Schlag, der ihr fast die Sinne raubte. Ihre Haut brannte vom Aufprall. Während die Wucht sie wie einen Korken unter Wasser in die Tiefe drückte, schrie sie beim Gedanken an die Haie in einem wirbelnden Sog aus Wasser und Luftblasen. Mit aller Kraft ruderte sie nach oben und tauchte prustend auf. Sie hasste das Wasser, aber wenn es sein musste, konnte sie offenbar tatsächlich schwimmen. Zwar nur unbeholfen, eher wie ein Hund, der paddelt, aber immerhin blieb sie an der Oberfläche. Salz brannte in ihrer Nase und ihren Augen. Ein paar Meter neben ihr ragte das Schiff bedrohlich auf wie ein schlafendes Seeungeheuer. Und während ihre Füße im Bemühen, über Wasser zu bleiben, in die schwarze Unendlichkeit unter ihr stießen, kämpfte sie dagegen an, nicht aus voller Kehle nach Hilfe zu brüllen. Das brauchte sie auch nicht, die Offiziere hatten sie bereits entdeckt.
Und dann wimmerte sie doch leise auf - als in der Nähe ein glänzendes schwarzes Dreieck die Wasseroberfläche durchschnitt,
wieder abtauchte und einen unheilvollen
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