Ascheherz
Und sicher weiß sie, dass sie nicht unverwundbar ist. Aber vielleicht fürchtet sie sich einfach nicht so sehr vor dem Tod wie wir.«
»Wenn sie so etwas wie eine Diplomatin ist und versucht, Kriege zu verhindern, warum legt Lord Teremes dann so großen Wert auf ihren Rat? Er will doch den Krieg führen, um die Zitadelle zu erobern, oder nicht?«
Farrin wurde wieder ernst. »Weil sie die Einzige ist, die dieser Raubfürstin schon einmal begegnet ist.«
»Dann gibt es sie also tatsächlich!«
Farrin nickte. »Aber ich gebe dir einen guten Rat. Frag sie lieber nicht nach Lady Mar.«
Der Weg führte in Sichtweite der Küste entlang, vorbei an Sandbänken und zerklüfteten Felsnadeln, die in bizarren Formationen aus dem Meer stachen. Überraschenderweise glühte der Spätherbst im Norden immer noch feuerfarben. Wie ein rotes Band säumten Purpureichen in der Ferne die Linie der Hügel. Das Wasser leuchtete taubenblau, und wenn es ruhiger war, konnte man dicht unter der Wasseroberfläche die Haie beobachten, die dem Schiff neugierig wie ein Rudel Hunde folgten.
Es war ein neues Gefühl von Fieber, das Summer auf dem Boot kaum schlafen ließ. Die Wut über Anzejs Verrat war kein bisschen verraucht. Aber das Verwirrende war, dass sie trotz allem gegen das Gefühl ankämpfen musste, auch einen Freund verloren zu
haben. Selbst wenn sie es sich niemals eingestanden hätte, Anzej fehlte ihr.
Dazu kam ein neuer, kühlerer Zorn, wenn sie an den Blutmann dachte. Es war seltsam, aber ihre Angst vor ihm hatte sich bei der Begegnung mit dem falschen Blutmann in etwas anderes verwandelt. Statt sich zu fürchten, suchte sie in ihren Träumen nach ihm. Seitdem die Frau im weißen Kleid wieder ein Teil von ihr war, war sie nicht länger eine Fliehende. Sondern eine Suchende.
Es war einfach, in der Gemeinschaft unterzutauchen. Sie sog Farrins Berichte über das Nordland und die Zitadelle in sich auf. So oft sie dazu Gelegenheit bekam, warf sie einen Blick auf die Landkarten und prägte sich jeden Namen ein. Manche erkannte sie wieder, andere waren ihr völlig fremd. Moira saß mit dem zweiten Berater - einem hageren Kriegsstrategen - meistens abseits, doch sie hörte sehr wohl den Gesprächen zu. Summer entging nicht, wie oft Farrin versuchte, Moira mit seinen Geschichten ein Lächeln zu entlocken. Erfolg hatte er damit allerdings nie. Summer dagegen fühlte oft Moiras misstrauischen Blick auf sich ruhen. Und ertappte sich dabei, wie sie Moira ebenso verstohlen beobachtete.
Immer häufiger sahen sie nun kleine, der Küste vorgelagerte Inseln mit langen Bänken von grauem Sand. Gefleckte Robben schliefen dort in der Herbstsonne oder tummelten sich in Gruppen im Wasser. Manchmal machten die Haie Jagd auf sie. Dann schossen plötzlich ein gewaltiger Raubfischkörper und eine winzige, zappelnde Robbe aus dem Wasser, wanden sich in einem bizarren Tanz in der Luft, umkreisten einander elegant und fielen zurück in ihren Kampf um Überleben und Tod. Moiras Hund bellte wie verrückt und Summer hielt sich die Ohren zu und saß erstarrt vor Entsetzen da. Und dennoch konnte sie nicht anders,
als sich von dem Schauspiel gefangen nehmen zu lassen. Und mehr noch: Irgendetwas in ihr war sicher, dass sie den Anblick von Robben, die um ihr Leben tanzten, kannte.
In den ersten Tagen hatte sie sich noch davor gefürchtet, in diese andere Wirklichkeit zu blicken. Vielleicht aus Angst, dass Anzej darin auftauchen würde - in seiner unheimlichen Gestalt. Doch als sie es endlich wagte und dem Knistern der Raupen lauschte, kehrten einige Erinnerungen auf leisen Sohlen zu ihr zurück - fast so, als hätte Farrins zaghaftes Werben um die Kriegslady in Summer ein Echo gefunden. Ein Kuss, der nach Rauch und Begehren schmeckte, eine Hand auf ihrer Hüfte, der Duft von Zedern und das Elfenbeinbett, in dem sie diesmal nicht allein lag. Seide kühlte ihre Haut - und ein Atem strich über ihre Halsbeuge. Und da waren warme Lippen, deren Kuss sie staunend wie zum ersten Mal erfuhr. Aus diesen Träumen erwachte sie mit glühenden Wangen und seltsamerweise so traurig über einen unendlichen Verlust, dass ihr sogar die Haie gleichgültig waren.
Als sie am vierten Tag ihrer Reise den alten Hafen erreichten, hätte Summer alles erwartet, nur keine Gruppe von Soldaten mit struppigen, bereits gesattelten Pferden. Die Eskorte hatte offenbar seit Tagen in Zelten am Hafen und oben auf der Anhöhe des felsigen Hafenrunds kampiert. »Na wunderbar«, knurrte Moira,
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