Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
vielleicht vorgaukelte. Knacken von Ästen. Sie versuchte nicht daran zu denken, was Farrin ihr alles über die Tierläufer erzählt hatte: »Sie hassen Menschen. Aber man sagt, sie lieben Menschenfleisch.«
    Doch es zeigte sich kein Tierläufer, und nach einer Weile beruhigte sie sich ein wenig und ließ es zu, dass ihre Schultern sich entspannten. Denk logisch, Summer , ermahnte sie sich. Er kommt sicher gleich zurück. Warum sollte er mich wirklich in Gefahr bringen? Er will irgendetwas Bestimmtes von mir, sonst hätte er mich nicht am Leben gelassen. Sie schloss die Augen und lauschte
in die Dunkelheit nach Hufschlag - hörte den Schnee fallen. Das sachte Wispern von Flocken, die auf dem Boden auftrafen. Einige landeten wie ein kühles Kitzeln auf ihren bloßen Füßen. Sie zog die Beine nicht an den Körper, sondern dachte an Noret, an die Frau in Weiß, an alles, was sie war oder vielleicht auch nicht war. Doch auch diesmal suchte sie vergeblich nach der zweiten Wirklichkeit. Stattdessen wurde die Einsamkeit so wirklich, dass sie sie körperlich spüren konnte, ein leises Ziehen in der Brust. Um sich abzulenken, sang sie leise und stockend vor sich hin.
    Ich und du im Kartenhaus,
kann keiner hinein, kann keiner hinaus …
    Doch dann verstummte sie und schniefte. Das fröhliche Lied war eine schlechte Wahl. Und dann, in der bedrohlichen Stille, die sie nun umgab, kamen ihr einige Worte in den Sinn. Es war ein unerwartetes Geschenk, das sie lächeln ließ. Es waren ihre eigenen Worte! Sie hatte sie selbst gefunden, vor so langer Zeit. Vorsichtig, als könnten sie ihr entfliehen wie scheue Tiere, begann sie sie flüsternd zu formen, wurde mutiger, sobald sie sicher war, dass sie bleiben würden. Und dann sagte sie das Gedicht - ihr Gedicht! - immer und immer vor sich hin wie eine Beschwörung gegen die Dunkelheit:
    Ich singe
nicht mehr im Dunkeln,
die Gespenster bleiben draußen,
solange die Angst ihnen
nicht
die Türen öffnet.
    Sie wurde ruhig. Und seltsam getröstet nickte sie tatsächlich ein. Während sie in diesem kühlen Halbschlaf dahindämmerte, bildete sie sich ein, Hufschlag und gedämpfte Stimmen zu hören, und als sie erwachte, war es früher Morgen und neben ihr lag, eingeschlagen in ein welkes Blatt, ein Streifen gebratenes Fleisch. Sie nahm es an sich und verschlang es, ohne auch nur aufzublicken. Es war noch warm vom Feuer und schmeckte kräftig wie Wild. Nie hatte sie etwas Köstlicheres gegessen. Dann erst hob sie den Blick und war überrascht, wie unendlich erleichtert sie war, dass der Blutmann tatsächlich zurückgekehrt war. Auch wenn sie ihn auf den ersten Blick fast nicht erkannt hätte. Er trug eine schwarze Felljacke. Und eine Mütze aus Schneekatzenfell. Der Rucksack war verschwunden.
    Jetzt kam sie sich vor wie ein kleines Kind, das sich wegen einer Gespenstergeschichte zu Tode gefürchtet hatte. Er hatte ein Tauschgeschäft gemacht. Offenbar schätzten die Tierläufer Schlafsäcke und andere Gegenstände weitaus mehr als Menschenfleisch. Vermutlich hatte er die ganze Nacht an einem warmen Lagerfeuer gesessen. Bastard!
    »Und? Hast du dich bei den Tierläufern gut aufgewärmt?«, rief sie zu ihm hinüber.
    »Allerdings«, antwortete er ohne einen Funken Schuldbewusstsein, während er dem Rappen den Sattel auflegte. »Ich hatte keine Lust zu erfrieren.« Er strich dem Pferd beiläufig über das Fell, bevor er den Sattelgurt anzog. Die Wut kochte so jäh in Summer hoch, dass sie fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich.
    » Ich hätte erfrieren können!«, fauchte sie.
    Er lachte, als hätte sie einen wirklich guten Scherz gemacht. »Du erfrierst aber nicht.«
    Mit einem Kopfnicken deutete er auf ihre bloßen Füße. Das
Schlimme war, er hatte recht. Bei jedem anderen hätten die Zehen nach dieser Nacht blau gefroren sein müssen, sie aber spürte nur ein wenig Kühle. Plötzlich war sie zutiefst verunsichert. Hatte sie in den vergangenen Tagen vergessen, wie man fror? Habe ich es je gewusst ? Sie erschrak über diesen Gedanken. Doch die nächste Schlussfolgerung war noch viel beunruhigender: Hatte ich wirklich Hunger, als ich eben das Fleisch gegessen habe? Oder habe ich es nur getan, weil es menschlich ist, so zu reagieren? Versuche ich nur, mich wie ein Mensch zu benehmen?
    Anzejs zweites Gesicht erschien vor ihr, und unwillkürlich starrte sie ihre Hände an, als erwartete sie, Knochen durch transparente Haut schimmern zu sehen. Doch nichts war anders. Nachdenklich fuhr

Weitere Kostenlose Bücher