Aschenputtel: Thriller (German Edition)
empathisch beschreiben. Als ungeheuer loyal. Das war sie in der Tat– in ihrem Privatleben. Doch auf einmal erwartete man von ihr, dass sie sich auch am Arbeitsplatz privat verhielt. Völlig undenkbar! Es war zwar nicht so, als würde sie den Menschen gegenüber, denen sie bei der Arbeit begegnete, nichts empfinden. Sie hatte sich lediglich dafür entschieden, weniger für sie zu empfinden.
» Ich bin schließlich kein Seelenklempner«, hatte sie einer Freundin erklärt, die sich gewundert hatte, warum sie so unwillig war, sich bei der Arbeit gefühlsmäßig zu engagieren. » Ich bin Kriminalermittlerin. Da ist es nicht wichtig, wer ich bin, sondern was ich tue. Ich ermittle. Das Trösten muss jemand anders übernehmen.«
Sonst geht man unter, dachte Fredrika. Wenn ich jedes Opfer, dem ich begegne, trösten wollte, dann bliebe nichts mehr von mir übrig.
Fredrika konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben den Wunsch geäußert zu haben, bei der Polizei zu arbeiten. Als sie klein gewesen war, hatten alle ihre Träume von Musik gehandelt. Sie hatte Geigerin werden wollen. Die Musik hatte sie im Blut und ihren Traum im Herzen gezüchtet. Die meisten Kinder wachsen irgendwann aus ihren frühsten Träumen davon, was sie einmal werden wollen, heraus. Nicht so Fredrika. Sie hatte ihre Träume ausgebaut, sie konkretisiert. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie unterschiedliche Musikschulen besichtigt und abgewogen, welche am besten zu ihr passte. Noch bevor sie aufs Gymnasium kam, hatte sie bereits ihre ersten Musikstücke komponiert.
Sie war gerade fünfzehn Jahre alt geworden, als sich ihre gesamten Lebensumstände mit einem Schlag veränderten. Und zwar für immer, wie sich zeigen sollte. Auf der Heimreise von einem Skiurlaub wurde bei einem Autounfall ihr rechter Arm schwer verletzt, und nach einem Jahr Reha war klar, dass er den Belastungen stundenlangen täglichen Geigenübens nicht länger standhalten würde.
Wohlmeinende Ärzte sagten, dass sie Glück gehabt habe. Glück? Rein theoretisch und vernünftig betrachtet verstand Fredrika, was sie damit meinten. Sie war zusammen mit einer Freundin und deren Familie in die Berge gefahren. Die Mutter der Freundin war nach dem Unfall von der Taille abwärts gelähmt, der Sohn der Familie war ums Leben gekommen. Die Zeitungen bezeichneten das Unglück als » Tragödie von Filipstad«.
Doch für Fredrika würde es nie anders heißen als das Unglück, und in ihren Gedanken stellte das Unglück einen sehr konkreten Wendepunkt in ihrem Leben dar. Vor dem Unglück war sie eine andere Person gewesen als danach– das Vorher und das Nachher waren in ihren Augen unvereinbar. Sie wollte nicht anerkennen, in irgendeiner Weise Glück gehabt zu haben. Vielmehr fragte sie sich noch immer, fast zwanzig Jahre später, ob sie ihr Leben danach jemals würde akzeptieren können.
» Es gibt so viel anderes, was du mit deinem Leben anfangen kannst«, hatte die Großmutter versucht, ihr begreiflich zu machen– bei einer der seltenen Gelegenheiten, da Fredrika ihrer schrecklichen Verzweiflung über die geraubte Zukunft Luft gemacht hatte. » Du könntest doch in einer Bank arbeiten. Du bist doch so gut in Mathe.«
Fredrikas Eltern hatten nichts dergleichen gesagt. Ihre Mutter war Konzertpianistin und die Musik heiliger Bestandteil des Familienalltags gewesen. Fredrika war im Grunde hinter den Kulissen verschiedener großer Bühnen aufgewachsen, auf denen ihre Mutter entweder als Solistin oder als Teil größerer Ensembles gespielt hatte. Manchmal hatte auch Fredrika selbst zu den Ensembles gehört. Das war wunderbar gewesen.
Deshalb hatte Fredrika mit ihrer Mutter auch ganz andere Gespräche geführt.
» Was soll ich denn jetzt machen?«, hatte sie ihrer Mutter eines Abends kurz vor dem Abitur zugeflüstert, als die Tränen nicht versiegen wollten.
Ein musikliebender Mensch sprach zum anderen.
» Du wirst etwas anderes finden, Fredrika«, antwortete ihre Mutter und strich ihr sanft über den Rücken. » In dir ist so viel Kraft, so viel Willen und Lust. Du wirst etwas anderes finden.«
Und so war es schließlich auch. Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Philosophie. Das Angebot an Studiengängen war unerschöpflich.
» Unsere Fredrika wird einmal Professorin für Geschichte«, verkündete ihr Vater stolz bei allen erdenklichen Gelegenheiten. Die Mutter schwieg dazu. Es war immer der Vater, der lang und breit von den großen Erfolgen redete, die er sich von seinem Kind im Leben
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