Aschenputtel: Thriller (German Edition)
erwartete.
Doch Fredrika wurde nicht Professorin für Geschichte, sondern Kriminologin, spezialisierte sich auf Verbrechen gegen Frauen und Kinder. Und sie dachte nicht daran zu promovieren. Nach fünf Jahren an der Uni hatte sie gelinde gesagt die Nase voll von Theorien.
Sie konnte ihrer Mutter ansehen, dass sie einen so baldigen Ausstieg aus der akademischen Welt nicht erwartet hatte. Die Mutter war zwar nicht enttäuscht, gab aber doch zu, erstaunt zu sein. Wie gern hätte Fredrika diese Eigenschaft in sich gehabt: nie enttäuscht zu sein, immer nur überrascht.
Fredrika kannte sich also aus mit Genuss und Erleichterung, mit Leidenschaft und Verlorenheit. Und während sie die Anzeigen wegen Misshandlung ausdruckte, die Sara Sebastiansson gegen ihren Exmann erhoben hatte, dachte sie wie schon so oft darüber nach, warum Frauen bei Männern blieben, die sie schlugen. War das Liebe oder Leidenschaft? Angst vor Einsamkeit und Ausgeschlossensein? Aber Sara Sebastiansson war nicht wirklich bei ihm geblieben; zumindest war das der Eindruck, den Fredrika aus den ihr vorliegenden Dokumenten gewann.
Die erste Anzeige war gegen den Ehemann ergangen, als die Tochter zwei Jahre alt war. Im Unterschied zu vielen anderen Frauen hatte Sara Sebastiansson damals ausgesagt, dass der Mann sie nie zuvor geschlagen habe. Oft genug gab es in den Fällen, in denen die Frauen selbst Anzeige erstatteten, eine entsprechende Historie, doch Sara hatte angegeben, keine zu haben. Bei der ersten Anzeige war sie mit großen blauen Flecken auf der rechten Gesichtshälfte im örtlichen Polizeirevier erschienen. Ihr Ehemann hatte alle Anschuldigungen abgestritten und überdies behauptet, für den entsprechenden Abend ein Alibi zu haben.
Fredrika zog die Augenbrauen zusammen. Offenbar hatte Sara nie versucht, die Anzeige zurückzuziehen, wie so viele andere Frauen es taten, aber es war ebenso wenig zu einer Verhandlung gekommen. Die Beweise hatten nicht standgehalten, da drei Freunde ihres Mannes bezeugt hatten, dass er in der betreffenden Nacht bis zwei Uhr morgens Poker gespielt und dann bei einem der Freunde übernachtet hatte.
Es dauerte weitere zwei Jahre, bis Sara Sebastiansson ihn erneut anzeigte. Zwar behauptete sie, er habe sie in der Zwischenzeit nicht ein einziges Mal geschlagen, doch als Fredrika vom Ausmaß der Verletzungen las, die Sara zugefügt worden waren, und sie mit denen vom ersten Mal verglich, war sie fast sicher, dass Sara gelogen hatte. Ein gebrochener Arm, eingetretene Rippen, gestauchtes Steißbein. Obendrein war sie vergewaltigt worden. Im Gesicht war nichts zu sehen.
Fredrika erschien es unwahrscheinlich, dass der Mann seine Frau zwei Jahre lang nicht angerührt haben sollte, um dann derartig in Raserei zu verfallen.
Auch dieses Mal kam es nicht zur Anklage. Der Mann konnte mit Fahrscheinen und einer Reihe voneinander unabhängiger Zeugen belegen, dass er zum Zeitpunkt der Misshandlung auf Dienstreise in Malmö gewesen war. Der Tatverdacht konnte nicht aufrechterhalten werden, und die Ermittlungen wurden eingestellt.
Was sie da las, bestürzte Fredrika zutiefst. Irgendwie passte das alles nicht mit dem Bild zusammen, das sie von Sara Sebastiansson gewonnen hatte. Die Frau hatte nicht den Eindruck gemacht, eine Lügnerin zu sein. Die Misshandlungen jedoch hatte sie mit keinem Wort erwähnt, wenngleich ihr klar sein musste, dass die Polizei früher oder später davon erfuhr– doch das wollte Fredrika nicht als Lüge bezeichnen. Die Verletzungen, die Sara zugefügt worden waren, waren in höchstem Maße wahr und echt. Somit musste der Exmann schuldig sein, aber wie in Gottes Namen war er nur an die Alibis gekommen? Den Unterlagen zufolge war er ein erfolgreicher Geschäftsmann, zwölf Jahre älter als Sara. Ob er die Alibis gekauft hatte? Aber gleich so viele?
Fredrika blätterte weiter. Kurz nach der zweiten Misshandlung hatte sich das Paar getrennt, und nur wenige Wochen darauf war Sara wieder bei der Polizei aufgetaucht, um erneut Anzeige zu erstatten. Der Mann hatte sie nicht in Ruhe gelassen. Er hatte sie mit dem Auto verfolgt und ihr vor ihrer Wohnung und ihrem Arbeitsplatz aufgelauert. Der Mann hatte dagegengehalten, Sara würde all seine Versuche, einen vernünftigen Kontakt zur Tochter zu pflegen, unmöglich machen. Der Klassiker. Es ging wohl noch einige Monate so weiter– Anzeigen wegen Bedrohung und Hausfriedensbruchs–, aber er schlug sie niemals mehr. Zumindest lag nichts dergleichen vor.
Die
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