Aschenputtelfluch
schlich.
Am liebsten hätte ich den Jungs zugerufen, sie sollten nicht so verdammt frostig aus der Kutte schauen. Aber na türlich tat ich nichts dergleichen, sondern suchte mir stattdessen den Weg durch die Dunkelheit. Ich begegnete niemandem und erreichte den dritten Stock ohne Proble me. Am Ende des Flurs blieb ich vor der Tür zum Dormito rium stehen, einem Raum im dritten Stock des Mädchen hauses. Hier hatten die Schülerinnen der Abiturklasse ihre Schlafräume. Sie wurden kaum kontrolliert. Sie trugen auch keine Schuluniform mehr, sondern erschienen zum Unterricht in ihrer normalen Kleidung. Ab und zu vermie teten sie diesen Raum gegen Geld an die jüngeren Schüler für ihre geheimen Mitternachtsfeten. Wie heute.
Nichts war zu hören. Keine Musik, kein Gelächter, nicht einmal leise Stimmen. Aber vielleicht gehörte das zum Programm Pyjamaparty, Flüsterparty – Knutschparty!
Immerhin erkannte ich einen Lichtschimmer durch den Türspalt. Langsam drückte ich den Griff nach unten, zog die Tür auf und – es dauerte nur wenige Sekunden und ich begriff: Ein Fehler! Ein Riesenfehler!
Emilias Strategie, über sich selbst zu lachen – die funk tionierte bei mir nicht. Ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Mein Gesicht wurde heiß. Die Pforten der Hölle öffneten sich. Im Fegefeuer war ich bereits. Mein Gesicht glühte wie eine Ampel, die plötzlich auf Rot sprang.
Alle waren normal gekleidet: Jeans, T - Shirt, Turnschuhe.
Ich war die Einzige, die einen PYJAMA trug.
Und mir war sofort klar: Das war kein Zufall! Kein Irrtum.
Nein – man hatte mir eine Falle gestellt, mich hineinge lockt, und ich – oh, wie bescheuert, wie dumm, wie ver blödet – war hineingetappt.
Und als sei diese Selbsterkenntnis nicht bereits Strafe genug, brachen alle in grölendes Gelächter aus und klatschten Beifall.
»Wo willst du denn in diesem Outfit hin?«, rief irgendje mand, nein, nicht irgendjemand, sondern Bastian. »Bist du vielleicht mondsüchtig?«
»Na klar«, es war Trixie, die schrill auflachte, »ist ja auch Vollmond.«
»Aschenputtel lässt grüßen«, hörte ich Sonja.
In der nächsten Sekunde drehte ich mich um, stieß ge gen das Türblatt, was mit erneutem Gelächter kommen tiert wurde, und dachte nur noch: Weg! Einfach weg! So schnell wie möglich!
Ich rannte den Weg zurück, den ich noch vor wenigen Minuten so hoffnungsvoll entlanggegangen war. Jetzt blickten die Mönche nicht mehr streng, sondern ihre Au gen sprühten vor Spott. Ich hielt den Blick auf meine Füße gesenkt, die in diesen albernen Hausschuhen steckten. Mein Gesicht brannte vor Scham und Erniedrigung. Als ich die ersten Stufen der Treppe nahm, rutschte mir einer der Zebraschuhe vom Fuß. Der alte Steinfußboden war eis kalt. Ich versuchte, den Schuh im Laufen überzuziehen. Erst als jemand an meine Schulter fasste, hob ich den Kopf. Vor mir stand Nikolaj.
»Gehst du nicht auf die Party?«, fragte er.
Er war also auch eingeladen, doch mit einem Blick stell te ich fest: Er trug seine normalen Sachen. Ihn hatten sie nicht reingelegt. Natürlich nicht. Er wusste, was gespielt wurde!
»Nein!«
»Was ist los?« Er legte die Hand auf meine Wange und wollte mich an sich ziehen, als ich schrie: »Lass mich in Ru he! Lasst mich einfach alle in Ruhe.«
Und dann rannte ich davon.
Im Zimmer zurück, saß Meg auf dem Bett und las.
»Du hättest mich warnen können«, sagte ich.
»Warum sollte ich?« Täuschte ich mich oder lag ein hä misches Grinsen in ihrem Gesicht?
»Es wäre fair gewesen.«
»Fair? Warum sollte ich ausgerechnet dir gegenüber fair sein?«
»Weil...« Ihre Coolness brachte mich total aus dem Kon zept. Ich verstand nicht, wie man so gefühllos sein konn te.
»Hier kämpft jeder für sich. Je eher du das kapierst, desto besser. Entweder du gewinnst oder du verlierst. Wie Kira!«
»Wie Kira?«
»Genau!«
»Aber sie ist tot!«
»Klar ist sie tot! Sie hat aufgegeben.«
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Wenn du das selbst nicht weißt.«
»Was meinst du?«
»Lass einfach die Finger von Nikolaj, dann passiert dir nichts.«
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. »Nikolaj?«
»Lass ihn in Ruhe, okay! Er gehört mir.«
Sie war eifersüchtig! Meg, die Unantastbare! Sie war zu einem der primitivsten Gefühle fähig, das ein Mensch ha ben kann – Eifersucht!
»Er gehört niemandem«, erwiderte ich. »Und wenn du weißt«, fügte ich noch hinzu, »was mit Kira geschehen ist, dann musst du das
Weitere Kostenlose Bücher