Aschenputtelfluch
Wochenende bei Freunden. Wie Pink, die Trixie begleitete, oder Meg, die Indi besuchte. Ich blieb hier – wie alle Neuen. Wir, die Novizen, sollten uns nämlich erst einmal richtig eingewöhnen, bevor wir an Mamas Rockzipfel zurückkehrten. So lautete die Internatsregel.
Statt dreihundert Schülern waren ca. fünfundzwanzig anwesend und alle saßen an einem Tisch. Aus meiner Klas se waren außer mir nur Sonja und die Nonne in Raven horst geblieben.
»Irgendwelche Vorschläge?«, fragte Frau Sturm.
»Starwars!«
»Herr der Ringe!«
»Harry Potter!«
»Die Mumie!«
»Die kennt ihr doch alle längst. Könnt ihr vielleicht ver nünftige Vorschläge machen?«
Einer aus der elften Klasse rief: »Was Sie schon immer über Sex wissen wollten.«
Der Saal klatschte Beifall.
»Wie wäre es mit Der Club der toten Dichter?«
Allgemeines Gestöhne ging durch den Raum.
»Mann«, rief der aus der elften. »Das Volk will Blut sehen, keine Psychos.«
»Also entschieden: um acht Uhr hier im Speisesaal.«
»Was willst du schauen?«, fragte Sonja, die mir folgte.
»Ich bleibe auf meinem Zimmer.«
»Wenn du keine Lust auf den Film hast, dann können wir doch etwas zusammen machen?«
Gott, wie konnte man nur so eine miese Opportunistin sein. Wenn die anderen hier wären, würde sie mich nicht mal ansehen, geschweige mit mir reden! Für wie blöd hielt sie mich?
»Sorry, aber ich gehe früh ins Bett.«
Ich stand abrupt auf und schob den Stuhl so heftig zu rück, dass er umkippte.
ICH hatte andere Pläne für den Abend. Ganz bestimmt würde ich ihn nicht mit Sonja, dieser Heuchlerin, verbrin gen. Ich fühlte mich verwirrt und irgendwie leer, wie ab geschaltet. Der Einzige, mit dem ich hätte den Abend ver bringen wollen, war Nikolaj. Selbstmitleid – noch immer klang mir das Wort im Ohr. Ich hatte gehofft, mit ihm sprechen zu können, bevor er ins Wochenende gefahren war. Er hätte mir vielleicht erklären können, warum die anderen etwas gegen mich hatten. Aber es gab einfach keine Möglichkeit, ihn alleine zu treffen. Etwas hatte sich gegen uns – nein, gegen mich – verschworen. Und als ich hoch in mein Zimmer eilte, das ich nun zwei Tage lang für mich alleine hatte, nahm ich mir vor, nicht an ihn zu den ken. Zu frustrierend, zu schmerzhaft.
Nein, ich würde den Abend mit etwas anderem verbrin gen. Kira – mir ging einfach nicht aus dem Kopf, dass sie den gleichen Laptop wie ich benutzt hatte. Ihr Benutzer name war immer noch auf YouTube gespeichert. Ich wollte unbedingt herausfinden, womit sie sich beschäf tigt, wofür sie sich interessiert hatte. Es schien mir über lebensnotwendig. Vielleicht war irgendetwas auf dem PC von ihr zu finden. Schließlich redete mein Vater immer wieder darüber, dass die Webworld, wie er es nannte, gefährlich sei!
Nicht nur Viren, Würmer, Hacker, Spione! Es gab auch Pädophile, die es, laut meiner Mutter, auf mich abgesehen hatten. Der gesamte Abschaum dieser Welt lauerte ihrer Meinung nach im Internet.
Alles, was man je in diesen Laptop eingab, blieb da drin. Vielleicht nicht direkt auf dem Laptop selbst, aber eben in diesem Internet, das ich mir ähnlich vorstellte wie die schwarzen Löcher im Weltall, das Nirwana, eine Art Welt gedächtnis für alle Ewigkeit. Und was das bedeutete, war klar: Kira musste Spuren hinterlassen haben.
Ich beeilte mich, ins Zimmer zu kommen, schloss die Tür und setzte mich mit dem Laptop aufs Bett. Über den Explorer rief ich das Internet auf. Das Eingabefeld für Goo gle erschien. Meine Augen flogen über den Bildschirm: Datei, Bearbeiten, Ansicht . . . Halt! Chronik!
Ein Klick!
YouTube: Emilia Autumn – Gothic Lolita
YouTube: Klettern
YouTube: Klettern Cinderella
YouTube, YouTube und am Ende der Liste . . . Wahnsinn! Tagebuch online
War das die Spur, auf die ich gehofft hatte?
Ich rief die Seite auf.
Tagebuch online erschien auf dem Bildschirm.
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Hatte Kira Tagebuch geschrieben? Meine Aufregung kannte keine Grenzen. Meine Finger zitterten, als ich den Bildschirm nach unten scrollte, um die Einträge zu prüfen.
Es gab eine ganze Liste veröffentlichter Tagebücher: La
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