Aschenputtels letzter Tanz
mit mir macht und dass ich viel reiferwirke als die meisten Mädchen in meinem Alter. Und sogar als manche Frauen. Wir haben viel gelacht …«
Sie kneift die Augen zusammen, und Elsa sagt bestimmt: »Du musst das nicht erzählen«, aber Nina schüttelt heftig den Kopf.
»Es gibt ja gar nichts zu erzählen, so banal ist die ganze Geschichte. Kommt ja Hunderte Male vor. Haben wir doch alle schon mal im Fernsehen gesehen … Ist doch wirklich nichts Besonderes mehr … Ich hätte es ja auch besser wissen müssen. War ja nicht das erste Mal, dass einer versucht hat, mich anzugrapschen.«
Neben mir zieht Tobi scharf die Luft ein. »Was …«, aber Nina lässt ihn nicht ausreden.
»Komm schon, Tobi, sei doch nicht so naiv. Du weißt selbst, wie das ist. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie dieser alte Typ dich vor der Bibliothek angesprochen hat, da hast du doch auch schnell begriffen, was der von dir wollte.«
Fragend sehe ich Tobi an, seine Gesichtsfarbe ist von weiß auf rot gewechselt, in seinen Augen brennt Zorn.
Nina wendet sich wieder ab und fährt sich mit den Händen über die Arme, als würde sie frieren. »Danach ist es immer schlimmer geworden. Die Aufträge, die Bilder, das Anstarren …«
Mir fällt wieder ein, was David gesagt hat, dass es Gerüchte gibt, nach denen Nina ein Verhältnis mit einem älteren Mann haben soll. Sie könnten nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Wie hypnotisiert blättere ich weiter in dem Ordner und begreife, was sie meint. Es sind alles Aufnahmen von Nina. Doch sie sehen anders aus als alle, die ich von ihr kenne. Und offenbar auch anders, als Tobi sie kennt.
»Diese Fotos hast du uns nie gezeigt.«
»Es waren Aufnahmen für ein ausländisches Modemagazin.«
»Aber die sind … sie sind …« Tobi schüttelt den Kopf, als könne er so vertreiben, was er sieht. Seine Hände haben sich verkrampft, und ich habe Angst, dass er sich selbst verletzt, wenn er so weitermacht.
Nina ist auf den Aufnahmen nicht wiederzuerkennen. Das Mädchen darauf ist jung, aber irgendwie auch nicht. Die Art, wie es in die Kamera schaut, ist distanziert. Etwas Abschätzendes liegt in diesem Blick. Aber auch Abwehr und Resignation. Das Mädchen hat kaum noch etwas an, es ist eingehüllt in ein merkwürdiges Lederkostüm, das Ähnlichkeit mit einer Schuluniform hat, aber zwei Nummern zu klein ist. Dadurch wirkt selbst Ninas schmaler Körper üppig. Sie hockt in einer alten Fabrikhalle auf irgendwelche Rohren, meist in obszönen Posen mit weit gespreizten Beinen.
»Wissen Ma und Paps, was du da für Bilder gemacht hast?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich hab versucht, es ihnen zu erklären, aber sie haben nicht zugehört. Wie immer. Und hinterher … hab ich mich irgendwie geschämt.«
»Aber wenn sie es gewusst hätten …«
Ihr Blick bringt ihn zum Schweigen, bevor sie sich abwendet und im Fenster ihr Spiegelbild betrachtet.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Ein kaputtes Schneewittchen.
Mit dem Zeigefinger fährt sie dem Spiegelbild über die Wange, die noch immer von Mull bedeckt ist. »Es ist eigentlich gar nicht so schlimm. Es stört mich wirklich nicht«, flüstert sie, und es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter. »Es wird die Dinge sogar viel einfacher machen …«
Da springt Tobi auf und stürzt auf sie zu. In seiner Umklammerung wird sie beinahe erdrückt, aber das scheint sie nicht zu kümmern. Er hat die Augen fest zusammengepresst, als könne er so die Welt ausschließen.
Nach einer Weile macht sie sich sanft von ihm los. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist.« Sie wartet unsere Reaktion nicht ab, der Damm ist gebrochen, und nun strömt alles aus ihr heraus, was sie monatelang nur in die Tastatur gehämmert hat. »Und irgendwie gehörst du ja auch ein bisschen allen, schließlich hast du ja nichts dafür getan, dass du so gut aussiehst, nicht wahr? Du bist so geboren worden, also hast du auch kein Anrecht auf deine eigene Schönheit. Sie gehört dir nicht, sondern allen, die gerade Lust darauf haben …«
»Nein«, presst Tobi hervor, aber ich beginne langsam zu begreifen.
Vielleicht war es das, was ich bei der ersten Begegnung mit ihm gefühlt habe: dass Gesichter wie seines und das von Nina deshalb gefährlich sind, weil sie Begehrlichkeiten wecken.
Auf einmal hebt Nina den Kopf wieder und sieht Tobi fest an. »Manchmal gab es Tage, da wünschte ich mir, es würde niemand mit mir reden, damit ich
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