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Aschenwelt

Aschenwelt

Titel: Aschenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timon Schlichen Majer
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Gedächtnis komplett gelöscht. Hauptsächlich einige der ersten Tage, als sie den Drogenentzug überstehen musste. Dr. Uschasnik meinte damals, dass ihr vor allem die schlimmsten Tage fehlten, und sie solle dafür dankbar sein. War sie.
    An alles andere erinnerte sie sich allerdings viel zu gut. Und das machte ihr Angst und ließ sie zögern, ihren Stift auf die leere Seite zu setzen. Es gab Dinge, die sie lieber vergessen wollte. Aber sie gehörten zur Geschichte und zu ihr selbst. Sie musste sie aufschreiben, ob sie wollte oder nicht. Sie hatte damit angefangen und konnte jetzt nicht einfach damit aufhören.
    Zieh es durch! Schreib die Wahrheit auf! Es muss sein, für dich und für Deschda.
    Gar nichts muss. Lass es. Die Teufel warten doch nur darauf.
    Jo atmete tief durch und merkte, dass ihre Hand zitterte.
    Â»Alles gut?«, fragte Nadeschda und linste hinter ihrem Buch hervor.
    Â»Ja«, meinte Jo. »Nein. Es ist nicht gut.«
    Nadeschda legte ihr Buch zur Seite, setzte sich auf und nahm Jo in den Arm.
    Â»Wenn du nicht kannst, musst du nicht«, sagte sie.
    Â»Ich weiß«, sagte Jo. »Ich weiß das. Aber es wäre feige, wenn ich jetzt aufhöre.«
    Â»Es bringt aber nichts, wenn du dich damit quälst!«
    Jo schwieg eine Weile und vergrub sich in Nadeschdas warmen Körper. Sie könnte aufhören. Aber das wäre nicht nur feige, sondern auch nicht richtig. Auf halber Strecke dreht man nicht einfach um! Und was denkst du wirklich? Ich will nicht umkehren. Du weißt, was dich erwartet. Ja, weiß ich nur zu gut. Du solltest dir gut überlegen, ob du dir das wirklich antun willst. Ich habe mir es gut überlegt. Na dann leg los! Was hindert dich noch daran? Ich habe Angst. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Ich weiß.
    Tu es nicht!
    Doch, tu es. Danach wird es dir besser gehen.
    Hör nicht auf sie!
    Â»Ich will es wenigstens versucht haben«, sagte Jo.
    Â»Ich bin bei dir«, versprach Nadeschda. »Wenn du mich brauchst, ich bin da.«
    Â»Danke.« Jo küsste sie.
    Und sie fuhr fort, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie schrieb die ganze Nacht hindurch und ignorierte ihre wunden Finger und ihren schmerzenden Arm und die widerstreitenden Stimmen in ihrem Kopf. Sie achtete nicht auf die Schatten, die um sie her tanzten, die Teufel, die lachten. Nur ein einziges Mal stockte sie, als Anne ihr erschien und ihr eindringlich nahelegte, aufzuhören. Doch das war nur ein Traum, Jo war kurz eingenickt. Sie schrieb weiter. Weiter und weiter. Bis …
    â€¦ Nadeschda von ihrem Schluchzen wach wurde. Jo versuchte, ihre Weinkrämpfe zu unterdrücken, atmete betont ruhig, wischte sich die Tränen aus den Augen und putzte sich die Nase. Als aber Nadeschda fragte, was denn los sei, durchbrach der Tränensee die Staumauer. Sie weinte so sehr wie seit Jahren nicht mehr. Ein Weinkrampf nach dem anderen erschütterte sie und zerdrückte ihre Brust und ihren Hals. Nadeschda nahm sie stumm in den Arm und hielt sie fest. Jo weinte in ihre Brust und ließ ihre Tränen laufen. Nadeschda streichelte ihre Haare und fragte nicht danach, warum Jo weinte, und versuchte nicht, sie zu trösten. Sie ließ sie weinen, war da und ertrug Jos Schmerz, worauf sie sich noch tiefer fallen ließ. Sie fühlte sich sicher und geborgen, ein Gefühl, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Die Weinkrämpfe wurden allmählich leichter und weniger, und nach einiger Zeit versiegten auch die Tränen. Jo blieb auf Nadeschdas Brust liegen, und es war ihr egal, dass ihr Nachthemd von Tränen durchweicht war, weil es Nadeschda egal war.
    Â»Ich liebe dich«, sagte Jo. Zum ersten Mal sagte sie das zu ihr, weil sie es zum ersten Mal tief in ihr drin ehrlich spürte.
    Â»Und ich liebe dich«, erwiderte Nadeschda.
    Â»Ich weiß«, sagte Jo.
    Sie schwiegen, während Nadeschda weiter Jos Kopf streichelte und sie festhielt. Jo genoss die Nähe, Nadeschdas Wärme. In diesem Moment war sie glücklich und fühlte sich federleicht, als sei eine Last von ihr abgefallen, ein tonnenschweres Gewicht, das jahrelang auf ihr gelastet hatte. Nun war es weg. Durch Tränen und durch jemanden, der sie liebte, der sie nicht trösten wollte, der es ertragen konnte, wenn sie weinte, der einfach für sie da war.
    Â»Noch ein bisschen, dann lese ich dir vor, was ich heute Nacht geschrieben habe«, sagte Jo.
    Â»Willst du nicht erst

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