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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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wütend. Vor allem auf ihn.
    Sie stand mit dem Rücken zu mir, und ihr weißer Kittel ließ sie selbst in dieser Situation noch makellos erscheinen.
    »Du hättest mich vorher anrufen können!«, sagte sie zu Charles und bemühte sich, ihre Beherrschung wiederzufinden. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
    »Ich habe versucht, sie zu wecken, aber selbst ein Bombenhagel hätte das nicht geschafft. Hör zu, ich wollte sie nach Hause bringen, bevor sie aufwacht …«
    »In Ordnung«, unterbrach sie ihn hastig. »Macht nichts.«
    »Mama, es geht mir gut, ich weiß nicht, warum du dich so aufregst.«
    Sie richtete sich wieder auf und stemmte eine Hand in die Hüfte, holte Luft und schien etwas Fürchterliches zu mir sagen zu wollen. Doch stattdessen ließ sie die Luft wieder ohne einen Ton aus ihren Lungen entweichen.
    »Lass es gut sein. Ist nicht wichtig …, nicht mehr. Bedanke dich bei dem Herrn, und dann gehen wir rein.«
    Ich beugte mich hinunter und winkte ihm zum Gruß. Nachdem ich nun wusste, dass er ein Freund meiner Mutter war, war es mir ein bisschen peinlich, wie ich ihn behandelt hatte.
    Doch er schien nicht der Typ zu sein, der sich wegen so einer Kleinigkeit aufregen würde. Trotz allem, was ich zu ihm gesagt hatte, war er ausgesprochen nett gewesen.
    »Danke«, sagte ich. »Entschuldigen Sie das Missverständnis.«
    Er blinzelte mir zu. »Es war eine nette erste Begegnung. Und außerdem ein ziemlich außergewöhnlicher Tag.«
    »Ja …, außergewöhnlich«, wiederholte ich.
    Das war es in der Tat. Es kam nicht oft vor, dass ich in Parallelwelten geriet. In der Erinnerung sah ich wieder die vielfarbigen Augen des Jungen vor mir, der mich gerettet hatte.
    Meine Mutter packte mich am Arm, und ich kehrte in die Wirklichkeit zurück.
    »Thara, das war heute eure erste und einzige Begegnung. Ich möchte nicht, dass ihr euch wiederseht.«
    Sie sprach diese Worte mit ungewöhnlichem Ernst und großer Entschiedenheit. Ich hielt es für das Beste, wenn sie sich erst einmal beruhigte, bevor ich ihr weitere Fragen stellte.
    Sie verabschiedete sich nicht von Charles. Sie ging zur Tür der Apotheke und drehte sich nur um, um sich zu vergewissern, dass ich ihr folgte.
    »Gehen wir?«, sagte sie noch immer wütend.
    Ich warf Charles einen letzten Blick zu – er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Mach dir nichts draus – und ging mit meiner Mutter in die Apotheke.
    Als wir an den Regalen vorbeigingen, sah ich, wie ihr Kittel in der Luft flatterte. Er schien wie von einem Wind bewegt, der dem Gewitter vorausgeht. Und ich täuschte mich nicht.
    Sie ging hinter den Tresen und gab mir das Zeichen, ihr ins Hinterzimmer zu folgen. Ich begrüßte Vivian, die Apothekenhelferin, und folgte meiner Mutter in den Raum, der jetzt wohl meine Folterkammer werden sollte. Auch wenn ich vor Kurzem noch von fremdartigen Kreaturen angegriffen worden war, meine Mutter verstand es, mich noch viel wirkungsvoller zu terrorisieren.
    Ich ließ meine Tasche mit den Büchern neben einen Stuhl fallen. Sie schloss die Tür.
    »Wir haben zwei feste Regeln. Mehr verlange ich nicht von dir. Ich möchte nur, dass ich mir keine Sorgen machen muss.«
    Ich verstand nicht: zwei Regeln? Ich unterbrach sie: »Gab es denn nicht nur eine Regel? Ich soll immer mit Christine zusammen sein, wenn ich ausgehe.«
    »Tja, dann ist heute eine zweite hinzugekommen: Du sollst dich von Charles fernhalten.«
    Sie atmete tief ein, als hätte dieser Mann etwas noch viel Schrecklicheres an sich als die Fliege an seinem Kragen.
    »Ich dachte, er wäre ein Freund von dir …«
    Sie fuhr sich mit der Hand an die Schläfe und schien lange nachzudenken, bevor sie eine Antwort fand. Ich konnte wirklich nicht verstehen, warum sie so aufgeregt war. Bis gerade eben hatte sie den Namen »Charles« nie erwähnt.
    »Wir waren mal Freunde«, sagte sie schließlich, als hätte sie sich von einer Last befreit. »Vor vielen Jahren. Aber nun haben wir nichts mehr miteinander zu tun.«
    Ich nahm die Thermoskanne aus der Tasche und schraubte den Deckel ab, aber sie war ja leer.
    »Wieso nicht?«
    Meine Mutter wurde immer aufgeregter. »Vor langer Zeit …«, antwortete sie, »ist etwas vorgefallen. Etwas Unangenehmes, das uns voneinander entfernt hat.«
    »Zwischen euch?«
    »Nein, nicht zwischen uns. Charles ist ein anständiger Mensch.« Sie suchte meinen Blick in der Hoffnung, ich würde sie verstehen, ohne weiterzufragen. »Aber wir haben zusammen Momente durchlebt, an die ich mich

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