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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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verstehen.
    »Dann entschuldige«, sagte er nur.
    Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und verschränkte die Arme auf der Brust.
    Er sagte nichts, er sah mich nur an.
    »Wie heißt du?«, fragte ich, auch wenn mich das in diesem Moment nicht besonders interessierte. »Ich muss wissen, wie du heißt, wenn wir uns wie normale Menschen unterhalten wollen.«
    Er lächelte frech, er schien meine Reaktionen zu studieren, ohne sie wirklich zu verstehen. Dann wurde er ernst.
    »Nate … Ich glaube, ich heiße Nate.«
    Nate. Ein Name, der an »Nacht« erinnerte. Und ganz das Gegenteil von seinen Augen. Ich reichte ihm die Hand. Er sah sie an, ohne sich zu rühren.
    »Was soll ich damit machen?«, fragte er ernst.
    Ich zog sie zurück.
    »Nichts … Ich nehme an, gesellschaftliche Umgangsformen zählen hier wenig.« Argwöhnisch ging ich um ihn herum. »Tja, ich bin Thara.«
    Der Junge, der nun einen Namen hatte, drehte den Kopf und folgte meinen Bewegungen mit den Augen.
    »Ich bin zurückgekommen, weil ich dir danken wollte, dass du mich gerettet hast, aber nun habe ich eigentlich keine große Lust mehr dazu«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    Nate stand vom Schemel auf. Er seufzte.
    »Ich habe dir Angst eingejagt«, sagte er leise und nun nahm seine Stimme wieder ihren vertrauten, warmen Klang an. »Das wollte ich nicht.«
    Er ging zu dem Schränkchen, das an der Wand stand, und suchte etwas. Ich sah, wie er ein gestreiftes Hemd daraus hervorholte und es über sein T -Shirt zog.
    »Für mich ist heute ein großer Tag. Bislang habe ich geglaubt, die Welt sei eine Erfindung von mir. Und du, die du meinen Armen entglitten und verschwunden bist … Ich war überzeugt, du wärst Teil dieses Wahnsinns, den ich immer näher kommen spüre. Stattdessen ist es wahr. Du bist die erste Sicherheit, die ich seit ich weiß nicht wann habe.«
    Er machte die Schranktür zu und drehte sich zu mir um. Sein Blick verfinsterte sich, als würden schwarze Wolken an ihm vorbeiziehen.
    »Ich erinnere mich an nichts. In meinem Kopf wabern nur vereinzelte Bilder umher, Informationen, die ich nicht zusammenfügen kann … Ein gigantischer Albtraum.«
    Ich sah, wie er mit einem Mal traurig wurde, und obwohl er vor Kurzem noch so brutal gewesen war, spürte ich fast körperlich, wie sich meine Einstellung ihm gegenüber veränderte. Ich bekam Mitleid mit ihm.
    Wie alt er wohl war? Vielleicht achtzehn, aber sein Gesicht wirkte sehr viel reifer. Wahrscheinlich, weil dieser Ort Spuren in ihm hinterlassen hatte. Dieser Ort und die Einsamkeit.
    Ich seufzte und versuchte nachzudenken, bevor ich weitersprach. Wäre ich an seiner Stelle gewesen und es wäre nach so langer Zeit endlich ein Mensch aufgetaucht, hätte ich ihn nicht so schlecht behandelt. Aber Einsamkeit und Angst können jedes Wesen hart machen. Und dieses Gesicht war nicht für die Wut gemacht. Also beschloss ich, ihm zu verzeihen oder ihm zumindest eine zweite Chance zu geben.
    »Wo sind wir?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. Von den schwarzen Haaren, die immer noch ein wenig nass waren, regnete es ein paar Tropfen.
    »Ich weiß es nicht. Hier eben«, sagte er. »Ich nenne es den ›Ort der Asche‹.«
    »Das Cinerarium …«, dachte ich laut. »Ein Grab aus Asche.«
    »›Cinerarium‹ …«, wiederholte er. »Das gefällt mir.«
    »Und wie bist du hierhergekommen?«, wollte ich wissen.
    »Das weiß ich nicht«, antwortete er wieder in diesem finsteren, verführerischen Tonfall. »Meine älteste Erinnerung … Ja, die reicht zu dem Moment zurück, in dem ich hierhergekommen bin. Ich erinnere mich nur noch an einen großen Schmerz, und dann wollten diese Kreaturen mich angreifen. Ich habe keine Ahnung, was hier vorher war.«
    Er steckte eine Hand in die Tasche seiner Jeans und zog einen Gegenstand voll mit Asche daraus hervor.
    »Und bist du schon lange hier?«, fragte ich weiter.
    Er blies auf das Ding und polierte es mit dem Hemdsärmel. Nun erkannte ich es: ein Schlüsselanhänger in Form einer kleinen Weltkugel. Man konnte nur noch ein paar Blautöne erkennen.
    »Seit Ewigkeiten. All die Asche dieser Wüste in einem Stundenglas würde nicht ausreichen, um die Zeit zu messen. Und wie bist du hierhergekommen?«, fragte er und legte das Ding auf eine Regalkonsole.
    »Ich glaube, im Schlaf«, sagte ich und gestikulierte aufgeregt. »In meiner Wirklichkeit schlafe ich gerade.«
    Wieder schaute er ein wenig irritiert und lachte auf diese sinnliche, freche Weise.
    »Und das

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