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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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Augenwinkel sah ich, wie sich unten links etwas Weißes bewegte. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
    Er war es.
    Ich war mir nicht sicher, aber dieses weiße T -Shirt ließ mich hoffen.
    Der Junge sah mich nicht. Er ging auf das Wrack eines großen Kreuzfahrtschiffes zu, das vor ihm lag wie ein gestrandeter Riesenwal aus Eisen. Ich wollte nach ihm rufen, aber als ich den Mund aufriss und mit der ganzen Kraft meiner Lungen lauthals schreien wollte, erinnerte ich mich daran, dass ich seinen Namen nicht kannte.
    »He«, schrie ich. »Heeee!« Aber er war zu weit weg.
    Ich konnte ihn nur auf mich aufmerksam machen, indem ich zu ihm ging.
    Also machte ich mich an den Abstieg, und während ich die Düne hinabrutschte, sah ich, wie der Junge durch einen Spalt in den Rumpf des Schiffes schlüpfte.
    Ich war abgelenkt und fiel hin. Bis jetzt hatte ich noch gedacht, dass die Asche ganz fein sei. Nach meinem Sturz änderte ich meine Meinung.
    Ich stand wieder auf, massierte die Stellen, wo ich aufgeschlagen war, und ging zu dem umgekippten Überseekreuzer.
    Auf halbem Weg wurde ich Zeugin eines neuen paradoxen Phänomens dieser seltsamen Welt. In etwa fünf Metern Höhe tauchten mit einem Mal violette, lodernde Flammen auf. Ich erschrak vor dem grellen Licht und wich ein paar Schritte zurück. Ein dumpfes Grollen ging von den Flammen aus, die immer größer wurden.
    Nach und nach siegte die Neugier über meine Angst.
    Ich sah, dass sich zwischen den violetten Flammen etwas herausbildete. Es sah aus wie das Heck eines Passagierflugzeugs. Ja, es war wirklich ein Flugzeug. Auch die Tragflächen und der Bug tauchten auf, schwarz, verkohlt, noch immer von züngelndem Feuer umgeben. Dann vollendeten die glühenden Schlunde ihre Schöpfung und verschwanden. Das Flugzeug, das man da allein in der Luft gelassen hatte, gab der Schwerkraft nach und fiel. Es krachte auf den Boden und wirbelte eine Aschewolke auf. Ich legte mir die Hände schützend über die Augen und hielt die Luft an. Ich spürte, wie mir die Bö ins Gesicht und gegen die Arme schlug.
    Als sich alles beruhigt hatte, drehte ich mich um, um das Ergebnis zu betrachten: ein verbranntes Flugzeug.
    Ich lief weiter. Es kam mir komisch vor, dass mich der Wahnsinn, den ich gerade beobachtet hatte, so kaltließ, aber ich hatte es viel zu eilig, in das Schiff zu kommen.
    Durch den Spalt, durch den ich den Jungen hatte gehen sehen, lugte ich ins Innere. Alles war schwarz und roch stark nach Kohle.
    Wenn er hier hineingegangen war, musste es sich um einen sicheren Ort handeln, deshalb ließ ich mich von diesem Anblick nicht einschüchtern. Ich setzte einen Fuß hinein und wagte mich in die rostige Dunkelheit.
    Ich tastete mich vor und verließ mich auf meine Hände. Nach wenigen Metern konnten meine Augen, die besonders empfindlich waren, die kleinen Löcher im Kiel sehen, durch die ein feiner Lichtstrahl fiel – wie goldene Saiten, die über eine fürchterliche Vergangenheit gespannt waren.
    Ich merkte, dass ich an der Wand des ehemaligen Ballsaals entlangging. Dort stapelten sich Tische, Stühle und zerbrochene Spiegel, die von einer dichten Dunstschicht umgeben waren.
    Ich war noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen und hätte nie gedacht, dass ich jemals eines betreten würde. Trotz seines verfallenen Zustands wirkte es irgendwie romantisch.
    Am hinteren Ende des Saals sah ich ein etwas helleres Licht.
    Ich ging darauf zu und merkte, dass ich an einer Luke angelangt war. Ringsherum war der Boden geputzt – soweit man etwas Verkohltes überhaupt putzen kann.
    Ich bückte mich, drückte mich durch die Öffnung und sah sofort, dass hier jemand wohnte: sicherlich der Junge, den ich suchte.
    Ich beschloss, auf ihn zu warten und mich in der Zwischenzeit umzusehen, um mir ein Bild von ihm zu machen.
    Wenn es ihm gelungen war, an diesem Ort zu überleben und sich einen geschützten Raum zu schaffen, dann musste er mit einer reichen Erfindungsgabe und einer beträchtlichen Anpassungsfähigkeit gesegnet sein.
    Rechts von mir stand ein kleines, zerwühltes Bett, das früher einmal ein Rettungsboot gewesen war.
    Auf einem Eisenschränkchen lagen ein paar Kleinigkeiten. Zerbrochene Töpfe, halb verbrannte Bücher, Holzspielzeug, Kerzen – alles völlig normale Gegenstände, die keine offensichtliche Verbindung zueinander hatten und die ich niemals auf diese Weise zur Schau gestellt hätte.
    Ich begriff nicht, warum er sich die Mühe gemacht hatte, sie zu säubern

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