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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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setzen konnte. Er betonte, dass er in Latein sehr gut sei und die Nachhilfe nur dazu diene, den Stoff aufzuholen. Er hatte drei Monate lang bei irgendwelchen Spielen mitgespielt, worauf er außerordentlich stolz war.
    Ich lächelte dem komischen Grüppchen zu und setzte mich, wobei ich mich um eine professionelle Haltung bemühte. Ich hatte an diesem Tag absolut keine Lust, Deklinationen zu erläutern, aber ich hatte den Job ja schließlich angenommen – und vor allem bezahlten sie mich dafür.
    Wir hatten eine Stunde Zeit. Als Erstes fragte ich sie lustlos, was im Stoff gerade dran sei, und musste es mir zweimal wiederholen lassen. Ich war viel zu zerstreut, um irgendetwas Vernünftiges auf die Reihe zu bekommen.
    Wir übersetzten einen einfachen Textabschnitt, aber meine Schüler merkten schnell, dass etwas nicht stimmte.
    »Alles in Ordnung, Thara?«, fragte Steve und legte zärtlich seine Hand auf meinen Arm. Vielleicht wollte er flirten. Sich auf traurige Mädchen zu stürzen, funktionierte immer.
    »Ja, alles in Ordnung«, sagte ich und schob seine Hand weg. »Ich bin einfach nur ein bisschen müde.«
    Ich blickte auf die Uhr und sah, dass ich noch eine Dreiviertelstunde vor mir hatte. Ich hatte das Gefühl, seit einer ganzen Woche hier zu sitzen!
    Ich holte die Thermoskanne aus meinem Rucksack und trank einen Schluck Kaffee. Die anderen sahen mich ganz komisch an. Ich beachtete sie nicht, sondern blinzelte, um Nates Gesicht aus meinem Kopf zu vertreiben.
    Es gelang mir nicht wirklich. Noch eine Dreiviertelstunde!, sagte ich mir wieder, eine Dreiviertelstunde Phonetik, Silbentrennung und Betonungsregeln. Mein Kaffee würde nicht reichen.
    Ich bemühte mich um Konzentration und setzte mich aufrecht hin. Das Wörterbuch mit all seinen winzigen Buchstaben lag vor mir wie ein Haufen Asche.
    »Machen wir etwas Aufregenderes«, sagte ich leise – und eher zu mir selbst als zu den anderen.
    Ich gab jedem eine Aufgabe entsprechend seinen Fähigkeiten. Dann sah ich wieder auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Die Zeit schien stillzustehen, nur um mich zu quälen.
    Die einzige Möglichkeit, mich von den Bildern des Cinerariums abzulenken, war, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Auf irgendwas. Genauso gut hätte ich auch einen Nagel in eine weiße Wand schlagen können. Vielleicht würde es mir helfen, wenn ich die drei Schüler beobachtete.
    Während sie ihre Aufgaben machten, sah ich sie mir genauer an. Steve und Stephanie beugten sich über ihre Hefte, Clive hingegen saß einfach nur da und tat gar nichts.
    Er sah mich an. Er hatte den Kopf auf die Handflächen gestützt und machte ein gelangweiltes Gesicht. Als ich seinem Blick begegnete, setzte er ein breites Lächeln auf, das seine Zahnspange entblößte.
    Übelkeit und Ärger überkamen mich. Bei dem Geglitzer sprang mir plötzlich auch seine Akne ins Auge, die ich bis dahin noch gar nicht bemerkt hatte.
    »Bist du schon fertig?«, fragte ich ihn in der Hoffnung, dass sein stumpfsinniger Gesichtsausdruck verschwinden würde.
    Clive zog seine dichten Augenbrauen hoch.
    »Endlich!«, sagte er näselnd. »War aber auch Zeit, dass du es merkst. Du hast uns kein Zeitlimit gesetzt.«
    Ich war genervt, beschloss aber, so tun, als wäre nichts. Er drehte sein Heft zu mir und schob es mir mit einer spitzbübischen Miene zu, die ihm überhaupt nicht stand.
    Auf dem karierten Blatt fand ich weder konjugierte lateinische Verben noch Beispiele für den ablativus absolutus , sondern nur zwei Sätze: »Darf ich Dich etwas fragen? Schwarze Spitze oder rosa mit Blümchen?«
    Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Er grinste unverschämt. Allein der Gedanke, mit ihm zu streiten, widerte mich an, und ich beschloss, die Sache diplomatisch zu lösen.
    »Ich verstehe kein Wort«, sagte ich spöttisch. »Aber, wer weiß? Vielleicht gibt Herr Calinger dir ja trotzdem eine gute Note, wenn du ihn ganz nett darum bittest.«
    Clive fuhr fort, mich mit einem schlüpfrigen Ausdruck im Gesicht zu fixieren, nur dass er mir dabei nicht mehr in die Augen schaute. Sein Blick war ein gutes Stück tiefer gerutscht.
    »Dein Höschen«, sagte er laut, aber träge. »Ich will wissen, was du für ein Höschen trägst und welche Farbe es hat. Ist das so schwer zu kapieren?«
    Stephanie und Steve hörten abrupt auf zu schreiben und starrten erst Clive an, dann mich. Sie warteten nur darauf, dass jeden Moment etwas Denkwürdiges geschah.
    Zum Glück war niemand sonst in der Bibliothek. Clive hatte

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