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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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hier ist für dich keine Wirklichkeit? All das kommt dir nicht verflucht real vor?«
    Ich runzelte die Stirn.
    »Doch, leider.«
    Nate seufzte und ging zu dem Boot, das ihm als Bett diente. Er setzte sich auf die Kante und fasste sich an die Schläfen.
    »Und ich schlafe in Wirklichkeit nicht, nicht wahr?«, fragte er, als könne ich das wissen.
    Ich hatte gehofft, dass er mir ein paar Antworten geben könnte, stattdessen warf er nur neue Fragen auf.
    »Ich weiß es nicht.«
    Er blickte mich an, und in seinen tausendfarbenen Augen sah ich eine trostlose Wüste wie diejenige draußen vor dem Schiff.
    »Nein, ich schlafe nicht«, sagte er bestimmt.
    Ich schwieg eine Weile, weil mir nichts einfiel, um das Gespräch ein wenig aufzulockern. Und so setzte ich mich zu ihm, nicht direkt neben ihn, aber nah genug, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich nicht böse auf ihn war. Ich wusste nicht, was er für mich empfand, und das machte ein Nervenbündel aus mir. Ein Nervenbündel, bei dem jeder Nerv in eine andere Richtung zog.
    »Was von der Welt hast du denn vergessen?«, fragte ich blöderweise und sah ihn durch das Haarbüschel hindurch an, das mir ins Gesicht gefallen war.
    »Wenn ich dir das sagen könnte, würde das ja bedeuten, dass ich mich erinnere!«
    Er hatte recht. Seine Worte waren zwar ironisch, sein Ton aber war es nicht.
    »Ich wollte sagen … Du weißt rein gar nichts über dich?«, versuchte ich mich zu korrigieren.
    »Nein.«
    »Aber wie soll das gehen, dass du nichts weißt?«, platzte ich heraus. »Hier stehen doch Bücher.«
    Nate strich mir die Haare aus dem Gesicht, um mich anzusehen, und ich wurde verlegen. Das hatte noch nie ein Junge vor ihm getan. Es war angenehm, aber auch peinlich.
    »Bücher … Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet.«
    Ich beugte mich ein wenig vor und hob ein Buch vom Boden auf, dabei tat ich so, als würde ich nicht bemerken, wie er mich ansah.
    »Das ist ein Buch«, sagte ich und gab es ihm.
    Er schlug es auf, hielt es aber verkehrt herum.
    »Da steht etwas geschrieben. Siehst du?«, fuhr ich fort und deutete auf die Zeilen.
    »Das sind Zeichen«, sagte er, als hätten Worte keine Bedeutung für ihn.
    Ich war verwundert. Bis jetzt hatte er ganz normal gesprochen, wenn auch ziemlich viel für einen Jungen seines Alters, der noch dazu eine Ewigkeit in Einsamkeit verbracht hatte. Warum verstand er denn nicht?
    »Kannst du nicht lesen?«, fragte ich ihn.
    Ich versuchte zu lächeln, was ich mindestens genauso schwierig fand, wie neben ihm zu sitzen. Seine Nähe machte mich schüchtern. Er zog mich an, aber seine Art, sich zu bewegen und die Stirn zu runzeln, schien mir zu signalisieren, dass ich mich lieber von ihm fernhalten sollte.
    »Lesen …«, wiederholte er, ohne zu verstehen, was er da sagte.
    Offensichtlich hat sein Gedächtnisverlust ihm nicht nur die Erinnerungen an die Welt, die Menschen und an seine Vergangenheit geraubt, sondern auch seine Auffassungsgabe beeinträchtigt.
    Er hatte das Lesen verlernt. Für ihn hatten gedruckte Wörter jede Bedeutung verloren. Das fand ich absurd.
    »Auf den Seiten stehen Dinge«, sagte ich und versuchte dabei, so ernst wie möglich zu bleiben und nichts durchblicken zu lassen, was ihn verlegen machen könnte. »Da stehen Wörter wie die, die wir gerade zueinander sagen.«
    »Im Ernst?«
    »Ja.«
    »Kannst du mir beibringen, sie zu verstehen?«
    »Ja«, antwortete ich spontan, dann erinnerte ich mich daran, dass ich jeden Augenblick aufwachen konnte. »Wenn ich Zeit habe.«
    Nate erschrak über alle Maßen. Ich spürte, dass er fast zitterte.
    »Warum? Musst du gehen?«
    »Ich werde wohl bald aufwachen«, gab ich zu und fühlte mich schuldig.
    Er stand auf und schleuderte das Buch an die Wand. Der Schrei, den er dabei ausstieß, ein nackter Wutschrei, ließ mich schaudern. Die Angst, als er mich an den Handgelenken gepackt hatte, kam zurück, und ich sah ihn wieder mit anderen Augen.
    »Wenn du gewusst hast, dass du wieder gehen wirst, hättest du dir gar nicht erst die Mühe machen müssen zu kommen!«, schrie er und drehte sich zu mir um.
    Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und meine Mundwinkel zitterten.
    »Ich kann nichts dagegen tun«, flüsterte ich.
    In diesem Augenblick sah ich, dass auch Nates Augen glänzten. Er schaute mich an, als wäre ich seine einzige Hoffnung gewesen. Als wäre ich seine einzige Rettung, und die war nun im Begriff zu verschwinden.
    »Bring mir das Lesen bei, hilf mir, mich wieder zu

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