Ascheträume
erinnern, bitte!« Er flehte mich fast an.
Auch ich stand auf.
»Das werde ich«, sagte ich zuversichtlich. »Ich verspreche dir, dass ich bald wiederkomme.«
»Was heißt ›versprechen‹?«, fragte er mit seinem schönen Gesicht, das nun vor Trauer verzerrt war.
»Auch das werde ich dir beibringen.«
In diesem Moment spürte ich, wie ich in mein Inneres gezogen wurde, als würde jemand nach meiner Seele greifen. Die Sinne schwanden mir, und kurz bevor ich das Cinerarium verließ, hörte ich Nate sagen: »Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch wehren kann …«
Als ich wieder klarsehen konnte, standen nur die Iris vor mir.
Welk.
Als hätte ein Herbststurm sie mit sich gerissen.
Ich lag mit der Stirn auf dem Schreibtisch.
Warum war ich ausgerechnet jetzt aufgewacht?
Ich stand auf und ging in die Küche. Ich sah nicht auf die Uhr, ich holte nur ein Stück alte Pizza aus dem Kühlschrank.
Ich wärmte sie in der Mikrowelle auf, und während ich auf das elektrische Piepsen wartete, machte ich Pläne für den kommenden Tag.
Ich war entschlossen, wieder zu Charles zu gehen. Er musste mir von meinem Vater erzählen, und ich musste mir frische Iris besorgen.
Noch nie war mein Leben so ausgefüllt gewesen.
An jenem Morgen, auf dem Weg zur Schule, erinnerte ich mich daran, dass ich heute Nachhilfe geben musste. Drei Schüler hatten sich auf meine Annonce gemeldet, und ich hatte den Termin auf den frühen Nachmittag gelegt. Sie waren eine Klassenstufe unter mir, und das, was ich mit ihnen durchgehen wollte, war ganz leicht.
Den ganzen Morgen über, während Trigonometrie und Kunstgeschichte, war ich in Gedanken weit weg in der Aschewelt. Ich konnte nicht aufhören, an Nate zu denken, und ich würde keine Ruhe finden, bevor ich seine Botschaft nicht verstanden hatte. Was wollte er damit sagen: »Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch wehren kann …«?
In der Mensa aß ich nichts. Ich spielte mit meinem Apfel wie mit einem Tennisball. Leonard und Christine setzten sich zu mir, verlangten aber keine Erklärung. Christine versuchte, ein Gespräch mit mir anzufangen und sagte, sie habe eine Möglichkeit gefunden, sich an Esteban zu rächen. Nachdem sie nur ein knappes Kopfnicken geerntet hatte, sagte sie, sie würde später wieder mit mir reden, wenn ich in die Welt der Lebenden zurückgekehrt sei. Sie hatte es im Spaß gesagt und wusste gar nicht, wie recht sie damit hatte.
Mir kam es so vor, als wäre ich noch immer dort in diesem Schiff, mit Nate, der mich an den Handgelenken festhielt. Ich konnte ihn einfach nicht vergessen. Er hatte mich in einen derartigen Adrenalinrausch versetzt, dass alles andere um mich herum verschwommen war.
Ich quälte mich noch immer und sagte mir, ich hätte falsch reagiert, ich hätte ihm einen Tritt verpassen müssen, auch wenn das gegenüber einem Jungen mit offensichtlichen Persönlichkeitsstörungen ziemlich gemein gewesen wäre.
Ich war daran gewöhnt, mich selbst zu kritisieren, mir erschien grundsätzlich nie richtig, was ich tat, doch mit Nate, dem Jungen mit den Regenbogenaugen, war es anders. Er schien sich nicht an meinen Fehlern zu stören, ihm schien nur das Wesen der Dinge wichtig zu sein, so als müsse er sich selbst durch mich finden.
Ich ärgerte mich weiter bis zu dem Termin mit meinen drei Nachhilfeschülern in der Bibliothek. Sie saßen an einem runden Tisch in der Mitte des Lesesaals, umgeben von Regalen. Außer uns gab es hier nur Bücher. Ich begrüßte sie, und wir stellten uns einander vor.
Die Erste war ein Mädchen namens Stephanie. Sie wirkte träge, ihr Gesicht war ausdruckslos, und sie hatte die Ausstrahlung eines Eiswürfels. Sie hatte zwischen sich und den beiden Jungen ein paar Stühle Platz gelassen, als würde es sie anekeln, neben ihnen zu sitzen. Ich konnte sie verstehen.
Der eine Junge hieß Clive und hätte noch einem Pfund Butter eine Lektion in Sachen Schmierigkeit erteilen können. Seine Haare waren mit Gel angeklatscht und auf eine Seite gekämmt. Bei der Begrüßung gab er mir einen Handkuss und sagte: »Enchanté.«. Als ich meine Hand zurückzog, war sie vollgesabbert.
Ich wischte sie schnell ab, bevor ich mich dem anderem Jungen vorstellte: Steve.
Er und sein Sitznachbar hatten nicht das Geringste gemeinsam. Er sah aus wie ein Rugbyspieler, seine Augen waren von der Farbe des Sommers, und er lächelte wie ein Fuchs. Seine Haut war stark gebräunt.
Er zwinkerte mir zu und schob meinen Stuhl zurück, damit ich mich bequem
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