Ascheträume
Korridore. Ich musste Christine finden, sie sollte mir diese Sache mit der Erpressung erklären! Meine Lage war schon mies genug – wenn sie nun alles noch verschlimmerte, hätte ich nie Ruhe vor dem ganzen Getratsche.
Ich traf sie vor ihrem Spind. Sichtlich wütend ging ich auf sie zu, sie aber merkte nichts und lächelte mich an.
»He! Ich habe eine Neuigkeit!«, sagte sie, bevor ich sie an den Handgelenken packte und an den Spind drückte. »Hast du den Verstand verloren, Thara?«, rief sie beleidigt und wand sich aus meinem Griff.
In diesem Augenblick erschrak ich über mich selbst. Wie konnte ich Christine so behandeln, ohne mir erst ihre Version der Geschichte anzuhören?
»Entschuldige bitte«, sagte ich leise und es war mir unendlich peinlich. »Heute stehe ich irgendwie neben mir.«
»Das sehe ich«, brummte sie und schloss den Spind auf.
Sie seufzte und beschloss, die Sache zu vergessen. Ich konnte das nicht.
Mir wurde bewusst, dass dieses Verhalten nicht zu mir passte. Ich hatte mit Christine genau dasselbe getan, wie Nate mit mir. Ich schauderte.
Kurz spürte ich seine Nähe und sah mich besorgt um. Ich bekam ihn einfach nicht mehr aus dem Kopf.
War ich so besessen von ihm, dass ich sein blödes Benehmen nachahmte, nur um wieder das zu fühlen, was ich mit ihm empfunden hatte?
Wenn das so war, dann ging es mir gar nicht gut.
Christine nahm eine Mappe aus dem Spind und machte sie auf. Mit nur wenig Genugtuung zeigte sie mir ein paar Fotos.
»Die haben Leonard und ich gestern Abend gemacht. Wir wollten dir helfen, aber wie es scheint, gefällt dir unsere Idee nicht.«
Besagte Bilder waren Fotomontagen, eindeutige Fälschungen, auf denen man sah, wie Esteban einen anderen Jungen küsste. Ich lächelte.
Das würde uns keiner abnehmen. Estebans Kopf war auf ein anderes Bild geklebt wie ein ausgeschnittener Fußballspieler.
Christine war erleichtert, als sie mein Lächeln sah und fragte, ob ich mit zu ihr kommen wolle.
»Nun mach schon«, beharrte sie. »Dann kannst du mir von deinem imaginären Jungen erzählen, ohne dass uns Leonard dazwischenfunkt.«
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube, ich gehe besser nach Hause und ruhe mich aus.«
Ich hatte gelogen.
Zusammen mit allen anderen verließ ich die Schule. Ich stürzte mich ins Gedränge und boxte mich mit den Ellbogen durch. Ich hatte mir nie klargemacht, wie toll das war, um Stress abzubauen.
Ich wollte Charles besuchen und mit ihm reden. Ich wusste nicht, ob ich ihm erzählen sollte, was mit mir geschah, aber in jedem Fall hatte ich noch eine Rechnung mit ihm offen: Er hatte versprochen, mir etwas über meinen Vater zu erzählen.
Während ich zu seinem Haus ging, hörte ich eine Hupe und fuhr zusammen. Ich drehte den Kopf, genervt von dem lauten Geräusch, und sah, wie ein Auto auf mich zukam.
Am Steuer saß Charles.
»Hallo, Thara! Gehst du nach Hause?«, fragte er und beugte sich aus dem Fenster.
Froh über das zufällige Zusammentreffen lächelte ich ihm zu.
»Hallo, ich wollte eigentlich gerade zu dir.«
Er kicherte und zog die Augenbrauen hoch.
»Wenn du willst, können wir auch durch abenteuerlichere Meere segeln als durch mein Haus.«
»Okay«, sagte ich, ging um das Auto herum, stieg ein und schloss die Tür.
»Wohin fahren wir?«
Charles legte den Gang ein und fuhr lächelnd los.
Der Ort, an den mich Charles brachte, war nicht gerade das, was ich mir unter einem abenteuerlichen Meer vorstellte, aber er schien genau richtig, um zu reden.
Wir betraten eine Bar. Alles sah so aus, als wäre das Lokal seit ungefähr dreißig Jahren geschlossen und nur für uns wieder geöffnet worden. Wir waren die einzigen Gäste.
»Lass dich nicht vom Schein trügen«, sagte Charles, als er sich an den Tresen setzte. »Hier sind bedeutende Dinge geschehen. Dinge, die vor allem dich betreffen.«
Im Fernsehen, das über uns an der Wand hing, kam gerade eine schreckliche Nachricht. Charles und ich drehten gleichzeitig die Köpfe und lauschten.
Auf dem Bildschirm sah man ein Feuer, Flammen loderten über einer Schule auf. Die Rede war von einem Terroranschlag, der am Morgen von einem Geisteskranken verübt worden war.
»Zum Glück hatte er es nicht auf deine Schule abgesehen«, sagte Charles und bestellte ein Bier und eine Cola.
Man sah weinende Schüler, die von Polizisten umringt auf einem Rasen knieten.
Die Feuerwehr versuchte, das Feuer zu bezwingen. Auf dem Dach des Schulgebäudes sah man die Umrisse eines Mannes, der ungerührt
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