Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
Vom Netzwerk:
Es war seltsam, ihn so zu sehen, er bewegte sich, als würde das ganze Gewicht der Jahre auf ihm lasten, als würde er sich plötzlich daran erinnern, dass er nicht mehr jung war.
    »Gehen wir?«, fragte er, als er an der Tür war.
    Ich nahm meine Sachen und folgte ihm.
    Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und gab ihn mir.
    »Das sind die Schlüssel für die Hintertür. Da ist ein Vorhängeschloss. Du und deine Freunde könnt kommen, wann ihr wollt. Keiner wird es erfahren – solange ihr niemandem etwas sagt. Ihr könnt auch in die Bar gehen.«
    »Danke, Charles«, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
    Ich hoffte, dass ich ihn damit ein bisschen aufgeheitert hatte, aber draußen machte er den Mund nicht mehr auf.

»Ich hab dir doch gesagt, dass wir besser mit dem Bus gefahren wären!«, sagte Leonard zu mir, während der Wagen seiner Mutter Sätze machte, als würden wir mitten durch ein Erdbeben fahren. »Ich habe erst letzte Woche den Führerschein gemacht, und das hier ist ein gottverdammter Feldweg!«
    Christine beugte sich von der Rückbank vor und stellte das Radio lauter.
    Ich saß vorn neben Leonard und konsultierte die Straßenkarte, um zu sehen, ob wir auf dem richtigen Weg waren. Innerhalb einer halben Stunde hatten wir uns schon viermal verfahren.
    »Es gibt keinen Bus nach Gorey«, antwortete ich. »Das ist ein kleines Dorf am See, das alles in allem aus vielleicht zehn Häusern bestehen dürfte.«
    Bisher waren wir immer nur auf der Autobahn aus der Stadt hinausgefahren, hier auf dem Land kamen wir uns vor wie im Ausland.
    Der Tag war bewölkt und verhangen. Die Luft war schwül, der Himmel grau wie meine Gefühle. Durch das Gebläse drang die Feuchtigkeit herein, und man bekam fast keine Luft in dem Dampf.
    Ich weiß nicht, wie ich Leonard dazu gebracht hatte, uns an diesen abgelegenen Ort zu bringen – jemandem schöne Augen zu machen gehörte nicht gerade zu meinen Talenten.
    Es musste Christine gewesen sein, indem sie ihm die Zähne gezeigt hatte.
    Wir hatten uns das Auto von Leonards Mutter ausgeliehen, ohne sie zu fragen, und wir hatten nur noch wenige Stunden Zeit, bevor sie von der Arbeit nach Hause kam.
    »Sie reißt mir den Kopf ab, sag ich euch!«, rief Leo, während er so vielen Löchern wie nur irgend möglich auswich. »Wenn sie auch nur einen einzigen Dreckspritzer findet, wird sie genau Bescheid wissen und mich killen. Und dann habt ihr mich auf dem Gewissen!«
    Christine hörte kurz auf, sich zum Takt der Musik zu wiegen.
    »Ich hab schon so viele Ameisen zertreten, dass mir eine mehr oder weniger auch nicht den Schlaf raubt.«
    Ich trank ein bisschen Kaffee aus der Thermoskanne, als ich am Straßenrand zwischen ein paar Bäumen ein Schild sah, auf dem »Gorey« stand.
    »Hier lang!«, sagte ich, kurz bevor wir die Kreuzung verpassten.
    Leonard riss das Steuer herum und fuhr mit dem Hinterrad voll in eine Pfütze. Eine Woge Dreckwasser schwappte über das Auto.
    »Jetzt kannst du nur noch auf die Guillotine hoffen«, sagte Christine und beugte sich zwischen den Sitzen nach vorne. »Soll ganz schmerzlos sein. Und sehr effektiv.«
    »Meine Mutter wird mich wohl eher erwürgen.«
    »Oder sie lässt dich einfach das Auto putzen«, versuchte ich, ihn zu beruhigen.
    »Und mein Zimmer! Und das wäre weitaus schlimmer, als von Löwen zerfleischt zu werden«, sagte Leo, während nach und nach die ersten Häuser in Sicht kamen.
    Gorey war genauso, wie wir es uns vorgestellt hatten. Eine Straße, kaum vierhundert Meter lang, gesäumt von Holzhäuschen.
    »Hier würde ich gern wohnen«, meinte Christine naserümpfend, »wenn ich ein Serienmörder wäre.«
    »Können wir denn nicht in das alte Kino gehen, das Charles uns überlassen hat?«, fragte Leo, während wir an verlassenen Veranden vorbeifuhren. »Ich würde es so gerne mal sehen!«
    »Wir gehen morgen«, sagte ich und sah mich um, in der Hoffnung, irgendjemanden zu sichten.
    »Oder heute Nacht«, gab er verschmitzt zurück und warf Christine einen Blick zu.
    Sie wich seinem Blick aus und neigte ihren Kopf zu mir.
    »Halt an!«, rief ich.
    Leo bremste so heftig, dass wir fast mit den Köpfen aneinandergestoßen wären.
    Vorn an der kleinen Kirche am Ende der Straße, und damit auch am Ende des Dorfs, goss ein Mann Blumenrabatten.
    »Wenn er noch zehn Minuten gewartet hätte, wäre es nicht mehr nötig gewesen«, meinte meine Freundin.
    Der Nachmittagshimmel hatte sich tatsächlich ziemlich verdunkelt. Dicke Wolken zogen

Weitere Kostenlose Bücher