Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
Vom Netzwerk:
über uns zusammen und ließen den Himmel so alt erscheinen wie das Dorf.
    Ich stieg aus und schlug die Wagentür zu – vielleicht ein bisschen zu heftig. Ich hörte, wie Leonard etwas zu mir sagte, aber ich ignorierte ihn. Ich lief über den schon ziemlich schlammigen Feldweg zu dem Mann am Bretterzaun vor der Kirche.
    »Entschuldigen Sie!«, sagte ich.
    Der Mann stellte die Gießkanne ab und drehte sich zu mir um. Er machte ein Gesicht, als hätte er seit Jahrhunderten kein menschliches Wesen mehr gesehen. Er kam auf mich zu und ließ mich nicht aus den Augen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich noch einmal. »Ich weiß, meine Frage wird Ihnen komisch vorkommen …« Ich nahm mein Handy und zeigte ihm das Bild, das ich am Morgen von Charles gemacht hatte. »Kennen Sie diesen Mann? Ich weiß, dass er mit meinem Vater oft hier zum Angeln war, und vielleicht haben Sie oder jemand anderes …«
    Er ließ mich nicht ausreden.
    »Charles!«, rief er aus. »Den habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen! Er ist älter geworden, aber das Gesicht ist noch dasselbe.« Er wandte den Blick vom Display ab und sah in den Himmel.
    Ein paar Tropfen fielen uns auf die Stirn.
    »Natürlich kenne ich ihn«, fuhr er fort. »Aber er hat sich schon jahrelang nicht mehr blicken lassen. Er war gut mit Brooks und dessen Frau befreundet.«
    »Leben die hier in Gorey?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Tja, der alte Brooks ist gestorben, und Rickie, seine Frau, ist … komplett verrückt. Sie wohnt im einzigen Haus am Seeufer«, sagte er und streckte den Arm zu einer Seitenstraße hin aus. »Aber warum willst du das denn wissen?«
    »Nur so … Einfach nur so.«
    Der Mann lächelte seltsam. Ein wenig angewidert betrachtete ich seine vergilbten Zähne und beschloss, zum Wagen zurückzugehen.
    Dieselbe Frage stellte ich mir selbst: Warum war ich nach Gorey gekommen? Und wieso spürte ich das Verlangen, auf der Stelle loszufahren und diese Rickie zu suchen?
    Vielleicht, weil mich Charles Schilderungen zur Eile gedrängt hatten. Irgendetwas in seiner Geschichte passte nicht zusammen. Da wäre zum einen der Tod meines Vaters und zum anderen die Tatsache, dass meine Mutter diesen Ort auch schon mal erwähnt hatte, zumindest glaubte ich das.
    Als ich die Wagentür wieder aufmachte, sprachen Christine und Leonard über den Geisteskranken, der am Morgen die Schule in Brand gesteckt hatte.
    »Der ist alles andere als geisteskrank, er ist ein Genie!«, meinte Leo. »Schade, dass er zusammen mit dem Gebäude verbrannt ist. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er auch in unserer Schule vorbeigekommen wäre.«
    »Leute, ich habe eine Spur«, unterbrach ich ihn im Tonfall eines routinierten Polizisten.
    »Wieso? Gibt es eine Ermittlung? Oder willst du jagen gehen?«, fragte Christine bissig.
    Ich zwang mich zu einem Lächeln.
    »Möglicherweise.«
    Ich sagte Leo, er solle den Motor anlassen und in das Sträßchen einbiegen, das der Mann mir gezeigt hatte. Es war schmal, und die Äste der Bäume schrappten an den Autoflanken entlang.
    »Können wir denn nicht zu Fuß gehen?«, fragte Leo, ohne eine Antwort zu bekommen.
    Zwischen den spärlichen Baumstämmen rechter Hand sahen wir den See, eine graue Wasserfläche, über der in der schwülen Luft feiner Nebel hing. Es sah so aus, als würde ein riesiges Gespenst darüberschweben.
    Dann ließen wir die Bäume hinter uns, und das Sträßchen folgte dem Seeufer.
    Ich kniff die Augen zusammen, um im Dunst besser sehen zu können.
    Der See von Gorey war von hohen Hügeln umgeben. Kurz kam es mir so vor, als würde auf einem von ihnen ein seltsamer Bau stehen. Aber ich konnte mich auch getäuscht haben. Die Landschaft verschwamm zu sehr im Dunst, als dass man etwas anderes als Wasser hätte ausmachen können.
    Da bremste Leonard ab und klopfte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah nach vorn. Der Weg endete an einem morastigen Platz. Ich begriff nicht, warum er nicht weiterfuhr, bis ich schließlich genauer hinsah.
    Der ganze Weg war voller Schildkröten. Hunderte Tiere schleppten ihre schweren Panzer über die Erde.
    »Wie süß!«, entfuhr es Christine, Leonard hingegen war starr vor Schreck.
    »Du hast doch nicht etwa Angst vor diesen lieben Tierchen, oder?«
    »Als ich klein war«, stammelte Leo, »hat mich eine gebissen.«
    Wir lachten, dann stiegen ich und Christine aus. Um Leo Beine zu machen, machte meine Freundin die Autotür auf, hob eines dieser kleinen Geschöpfe vom Boden auf

Weitere Kostenlose Bücher