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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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und hielt es ihm unter die Nase.
    »Wenn du nicht kommst«, sagte sie, »gibt dir Fräulein Schildi einen Kuss!«
    »Okay, okay!« Mit angewiderter Miene stieg Leo aus. Er blickte auf seine Füße, als sei er von giftigen Skorpionen umzingelt.
    Wir folgten dem Weg und schlängelten uns zwischen den Schildkröten hindurch, die ins Wasser strebten oder wieder herauskamen. Auf dem Platz am Ende des Wegs sahen wir ein Haus. Wenn man es überhaupt noch so nennen konnte.
    Es war ein Haufen aus morschem Holz, den selbst Biber besser aufgeschichtet hätten. Ein Teil war auf Pfählen errichtet, die in den Grund des Sees eingelassen waren, der andere lehnte sich an den Berghang und an die Bäume. Ich konnte kaum glauben, dass außer Schildkröten dort jemand wohnte.
    Misstrauisch näherten wir uns, als es einen lauten Knall über unseren Köpfen tat, der Himmel hell aufriss und ein plötzlicher Regenguss über uns hereinbrach. Wir beschleunigten den Schritt – Leo hüpfte wie über ein Minenfeld – und flüchteten uns unter das Vordach.
    »Mist! Meine neuen Schuhe!«, sagte Christine geziert.
    »Aber du hast doch absichtlich kaputte gekauft«, bemerkte ich.
    »Ja, aber …«
    In diesem Moment ging die Fliegentür an der Veranda auf, und ein Hexengesicht reckte sich uns entgegen.
    Wir schrien.
    Die Frau lächelte breit. Mit ihrer schlampigen Erscheinung und den Haaren, die wie ein einziges Knotengewirr aussahen, sah sie sehr alt aus, wahrscheinlich älter, als sie es in Wirklichkeit war.
    »Haaallo …«, sagte sie gedehnt.
    Sie sprach so langsam, wie die Schildkröten liefen.
    Sie bat uns herein und warf uns ein paar Lumpen zu, mit denen wir uns abtrocknen sollten, doch kaum hatte sie uns den Rücken zugewandt, warfen wir sie unauffällig weg.
    Innen war das Haus noch schlimmer als außen, wenn das überhaupt möglich war. Auch hier war alles voller Schildkröten, sie bewegten sich schwerfällig über den Boden, als wäre er mit Klebstoff überzogen.
    »Sieht aus wie das Set eines Horrorfilms«, flüsterte Leo mir ins Ohr.
    Die seltsame Frau fuhr sich durch ihr schwarzes Haar, wahrscheinlich dachte sie, sich damit in einen präsentablen Zustand zu bringen. Es wäre wohl nicht nett gewesen, ihr zu sagen, dass sie als Erstes mal eine Desinfektion nötig hätte.
    »Sie müssen Rickie sein«, wagte ich mich vor.
    »Ich dachte, man kennt mich als ›die Irre mit den Schildkröten‹«, antwortete sie und sah mich schief an. »Aber ja, so heiße ich. Und wer seid ihr?«
    »Freunde von Charles«, sagte ich schnell.
    Rickies Gesicht, das mager und ausgezehrt war, schien aufzuleuchten. »Oh, Charles!« Dann erlosch ihre Freude auf einen Schlag. »Was ist mit ihm passiert?«
    Wir sahen einander schweigend an. Jeder wartete, dass der andere etwas tat, um die Atmosphäre aufzulockern.
    Die Hausherrin ergriff die Initiative. Ihre Miene hellte sich erneut auf und sie wedelte mit den Armen.
    »Ha, das müsst ihr sehen!«, sagte sie begeistert und verschwand im Flur. Wir folgten ihr, wobei wir sorgfältig auf unsere Schritte achteten. Die Dielenbretter waren voller Splitter, die nur darauf warteten, uns mit tausend verschiedenen Krankheiten anzustecken. Die Schildkröten spazierten unterdessen fröhlich umher.
    »Du findest aber auch wirklich immer irgendwelche Verrückten!«, flüsterte Christine mir zu, während wir das Zimmer betraten, in dem Rickie auf uns wartete.
    »Seht euch das an! Seht euch das an!«, sagte sie mit schriller Stimme und forderte uns mit dem Zeigefinger auf, näher zu kommen. Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, dessen Laune so schnell, von einer Sekunde auf die andere, umschlug.
    Wir gingen zu einem Ding, das wohl einmal eine Anrichte gewesen war. Auf dem untersten Brett lag Stroh, und als wir uns bückten, konnten wir zwischen den Halmen leere Panzer und kleine Schildkröten erkennen, die dort auf der Suche nach Licht herumwuselten.
    »Sind sie nicht herzallerliebst?«, fragte Rickie und legte sich die Hand aufs Herz. »Sie sind gerade erst auf die Welt gekommen …«
    »Auf jeden Fall … herzallerliebst«, sagte Leo mit einem panischen Unterton in der Stimme.
    Abrupt richtete ich mich wieder auf. Das Möbelstück verströmte einen ekelerregenden Geruch. Wenn mich die Iris in eine Welt aus Asche brachten, dann wollte ich gar nicht wissen, wohin mich dieser Gestank katapultieren konnte!
    Auf einer abblätternden Tapete, die mich an eine alte Schlangenhaut erinnerte, entdeckte ich ein verblichenes Foto. Hinter

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